themenstadtinsel und schattenreich

DRUCKVERSION Insel und Schattenreich

Die Stadt der Zukunft ist arm, privat, gespalten und wild. Ein Einwurf

von UWE RADA

Ende Juni dieses Jahres schlug der Deutsche Städtetag wieder einmal Alarm. Wenn die Bundesregierung die nächste Stufe der Steuerreform vorziehe, drohen den Kommunen in den Ländern weitere Verluste in Milliardenhöhe. "Das Jahr 2003", orakelte gar Petra Roth, die Präsidentin des Städtetags, "wird das Schicksalsjahr der Städte." Es war nicht das erste Mal, dass sich der Städtetag, die Interessenvertretung der deutschen Städte und Gemeinden, in dieser Weise zu Wort meldete. Warnungen vor weiteren Steuerausfällen oder eindringliche Mahnungen, die geplante Gemeindefinanzreform endlich umzusetzen, die den Städten mehr finanziellen Spielraum verspricht, gehörten in den letzten Monaten zum vordringlichsten Job der Städtelobbyisten.

Es ist offensichtlich: Derzeit brennt den Städten kein anderes Thema so sehr unter den Nägeln wie die drohende Pleite. Nirgendwo wird dies deutlicher als in Berlin. Seit dem Kassensturz der rot-roten Landesregierung, dem Absturz der Bankgesellschaft Berlin sowie der wachsenden Schere zwischen sinkenden Steuereinnahmen und wachsenden Sozialausgaben, steht Politik in der Hauptstadt mehr denn je unter Finanzierungsvorbehalt. Angesichts eines kaum vorstellbaren Schuldenbergs von 50 Milliarden Euro ist binnen kurzer Zeit zusammengebrochen, was noch vor ein paar Jahren den ganzen Stolz der Berliner Stadtentwicklungspolitik ausgemacht hatte: mieterfreundliche Altbausanierung, Renovierung der Großsiedlungen, Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs kurzum: alles, was bislang zur Grundausstattung eines sozialen und ökologischen Stadtumbaus gehörte.

Löcher, zumal schwarze, haben aber nicht nur den Nachteil, dass sie sich nur schwer noch stopfen lassen. Schwarze Löcher machen auch depressiv. Zu den depressivsten Berufsgruppen Berlins gehören mittlerweile jene, die noch vor einigen Jahren zu den Berufsoptimisten gehörten: Architekten, Stadtplaner, Projektanten, all jene Urbanisten also, deren täglich Brot es ist, aufzubauen, statt die eigenen Zelte abzubrechen. Depressiv sind aber auch all jene, die dem "Aufbau" der 1990er-Jahre mehr oder weniger kritisch zur Seite standen Journalisten, Architekturkritiker, Stadtsoziologen, Stadtteilaktivisten. Nicht nur auf der Straße, auch in ihren Büros und Amtsstuben ist die Res Publica Berlinensis, der Dialog der Stadtbürger mit sich selbst, zu einem Klagelied über das Primat der Schulden durch die Politik verkommen. Armes Berlin.

Armes Berlin? Es gab Zeiten, in denen war die Stadt nicht nur reich an Hoffnung, sondern auch an Möglichkeiten und Visionen. Noch zu Beginn der 90er-Jahre stritt man sich in Berlin mit Leidenschaft darum, welches Gesicht die Stadt in Zukunft haben solle. Großstädtisch in die Höhe getürmt, wie es die FAZ und das Deutsche Architekturmuseum in Frankfurt am Main gerne gehabt hätten; preußisch runderneuert, wie es in den Amtsstuben der zuständigen Senatsverwaltung akribisch vorbereitet wurde, oder avantgardistisch-experimentell, wofür sich die jungen Wilden, allen voran Daniel Libeskind, stark gemacht hatten. Unabhängig von seinem Ausgang stand der Sprichwort gewordene Berliner "Architekturstreit" für eine Suche nach einem neuen Outfit für eine Stadt, der mit dem Ende ihrer Teilung nicht nur das Markenzeichen, sondern auch die Identität abhanden gekommen war. "Making a Capital at the end of the 20th Century" lautete denn auch der programmatische Titel eines Kongresses, den das "Center for European Studies" an der Harvard-Universität im Februar 1999 veranstaltet hatte. Dass die eingeflogenen Akteure der Berliner Hauptstadtplanung zu dieser Programmatik wenig beizutragen hatten, fiel allerdings schon damals auf.

Noch aber war das Ende des städtischen Dialogs nicht in Sicht. Namentlich der Umzug von Regierung und Parlament vom Rhein an die Spree mobilisierte noch einmal die Phantasien von Urbanisten, Architekten und Stadtplanern und bescherte dem Leitbild der nachhaltigen Stadtentwicklung einen späten Sieg. Statt sich im Zentrum der Stadt eine neue Hauptstadt zu bauen, verordnete der damalige Bauminister Klaus Töpfer der neuen Hauptstadt plötzlich Bescheidenheit. Die Sanierung bestehender Gebäude markierte so ganz nebenbei auch eine späte Zäsur gegenüber einer vorangegangenen Hauptstadtplanung die der Reichshauptstadt Germania von Hitlers Chefarchitekten Albert Speer.

Und nun das. Keine Debatte, nirgends. Die Initiative Baukultur der Architektenkammern ist verpufft, weil es ohne Geld keine Kultur zu geben scheint. Architekten wie Daniel Libeskind kehren der Stadt den Rücken, weil es in New York längst wieder spannender ist, und das Stadtforum, einst Arena erbitterter Auseinandersetzungen und schmerzhafter Kompromisse, wurde vom zuständigen Senator erfolgreich abgewickelt. Die Debatten der vergangenen Jahre markieren plötzlich die Fallhöhe eines ungeahnten Sturzes und werfen die Frage auf: Ist mit der Idee der Stadtpolitik plötzlich auch die Idee der Stadt abhanden gekommen?

Ein Ende der Stadt wurde in Berlin schon einmal proklamiert, das war im November 1996. Damals schien für die Kräfte des Mittelmaßes in der Berliner Stadtentwicklungspolitik die Zeit reif, sich am eigenen Sieg zu berauschen. Die Protagonisten der Vertikale und des Experiments waren in die Knie gezwungen, die "neue Friedrichstraße" fertiggestellt, nur noch die Nachkriegsmoderne der 60er- und 70er-Jahre stand der Vollendung des "neuen Berlin" im Wege. In diese Feierlaune hinein präsentierten der Stadtentwicklungssenator und sein Senatsbaudirektor mit dem "Planwerk Innenstadt" einen städtebaulichen Masterplan, der ganz der Devise verpflichtet war: Schafft ein, zwei, drei, viele Friedrichstraßen.

Der nicht nur städtebauliche, sondern auch intellektuelle Geschmack der neuen Zeit wurde dabei von keinem unverblümter zum Ausdruck gebracht als dem Osteuropahistoriker Karl Schlögel. Zur Präsentation des Planwerks Innenstadt sagte er: "Alles hat sich verändert der Rhythmus, das Verkehrsaufkommen, die Lebens- und Umgangsformen, die Schaufenster. Wir sind Zeugen der Wiedergeburt der städtischen Tugenden von Distanz und Höflichkeit, aber auch von Elend und entsetzlichen Verbrechen. Die größte Sehenswürdigkeit, die man derzeit in östlichen Städten bestaunen kann, ist das Ende der Stadt als staatlicher Veranstaltung und die Wiedergeburt der Bürgerstadt. Der Markt suchte sich den Ort und die Gebäude, die es gab nur zweckentfremdet und auf ihre ursprüngliche Nutzung wartend. Banken, die Museen geworden waren, wurden wieder Banken. Pelzgeschäfte, die man zu Fischläden umfunktioniert hatte, wurden wieder zu Pelzläden."

Schlögel, der Osteuropakenner, hatte mit diesem Plädoyer zu Recht versucht, den Berliner Verantwortlichen den Horizont in Richtung Osten zu öffnen und Berlin künftig nicht mehr nur mit Paris oder London, sondern auch mit Warschau oder Riga zu vergleichen. Weitaus schwerer allerdings wog sein Verdikt vom "Ende der Stadt als staatlicher Veranstaltung". Statt die unsicheren Zeichen der Zukunft zu erkennen und sie sich zu eigen zu machen, flüchtete man von nun an in die heile Welt der Bürgerstadt, mutmaßte schon bald der Architektursoziologe Werner Sewing. "Erstmals seit dem 19. Jahrhundert", so Sewing, "wird der Begriff des Stadtbürgers wieder an den des Eigentums geknüpft." Und wie zur Bestätigung legte Hans Kollhoff noch einen drauf. "Das 19. Jahrhundert", sagte der Chefarchitekt des "neuen Berlin", "ist noch nicht ausgeschöpft". Heute weiß man: Auch die Verfechter eines urbanistischen Revivals sind an ihrer Messlatte gescheitert. Die Immobilienmakler haben die Suche nach Pelzhändlern längst aufgegeben; der Mittelstand, der die neuen Stadthäuser auf Planwerksgelände hätte kaufen sollten, hat mit dem Platzen der New-Economy-Blase seine Ersparnisse verloren, und die spendablen Stadtbürger, denen das Gemeinwohl näher ist als der eigene Profit, sind längst ausgestorben. Selbst die Städte im Osten, in denen Karl Schlögel die Wiedergeburt der europäischen Stadt entdecken wollte, sind längst amerikanisch geworden.

Ist die Stadt deshalb tot? Keineswegs, sie lebt. Und wie! Die Cafés, Museen und Einkaufscenter sind voll, die Touristen erkunden nicht mehr nur die Trampel-, sondern auch die ausgetretenen Pfade, die Einheimischen belagern die Parks und zelebrieren Urlaub in der eigenen Stadt. Alle Furcht, mit dem Verschwinden des öffentlichen Raums verschwinde auch der Städter, haben sich in Nichts aufgelöst. Würde es Städte nicht schon geben, irgendwelche Marketingfachleute und Tourismusveranstalter und Stadtväter hätten sie längst erfunden.

Doch die Stadt lebt nicht nur, sie überlebt auch, vor allem an ihren neuen Rändern und Peripherien. In den weniger von Aufwertung und Festivalisierung betroffenen Innenstadtquartieren haben Migranten der dritten und vierten Generation ihre eigenen Gesetze zu schreiben begonnen und der Lesart der neuen Urbanität eine neue hinzugefügt: die des urbanen Dschungels, respektive ihrer Kulturalisierung unter Labels wie Kanak Attak. In den Ostbezirken Berlins haben ehemalige vietnamesische Vertragsarbeiter eine neue Unternehmerkultur entwickelt, die ihnen das Ausländerrecht auferlegt. Ohne Selbständigkeit kein Aufenthaltstitel, lautete das Programm dieser Zwangsform einer Ich-AG. Seitdem haben die Vietnamesen den Obst- und Gemüsemarkt erobert und den für Schnittblumen gleich dazu. Und in Marzahn, diesem neuen Einwanderungsbezirk des Berliner Ostens, wo jeder Zehnte inzwischen russisch spricht, haben die Vietnamesen die Rolle des ökonomischen Taktgebers übernommen. In den Havemann-Passagen betreiben sie inzwischen nicht mehr Imbissstände mit Asia-Food, sondern auch Modeboutiquen.

In Berlin ist der städtische Arbeitsmarkt darüber hinaus um eine neue Form der informellen Ökonomie erweitert worden der von Pendlern aus dem grenznahen Polen. Ihr Leben in Berlin ist nicht nur Überleben, sondern sichert der Familie auch ein erträgliches Auskommen in der Heimat. Zu Zehntausenden sind sie manchmal in der Stadt, arbeiten auf Baustellen und in Privathaushalten und tragen so auf ihre Weise zur Entwicklung der Dienstleistungsmetropole Berlin bei. Denn ohne niedrigwertige Dienstleistungen, wird die Stadtforscherin Saskia Sassen nicht müde zu erklären, gibt es auch keine höherwertigen finanz- und unternehmensorientierten Dienstleistungen.

Es ist kein Zufall, dass diese Formen der Nischen-, Onkel- und informellen Ökonomie derzeit zu den dynamischsten in den Großstädten gehören. Allein in Berlin, so hat es der Linzer Wirtschaftswissenschaftler Friedrich Schneider errechnet, wird jeder fünfte Euro schwarz erwirtschaftet. Wo auf normalem Wege ein normales Leben nicht möglich ist, schlägt man sich eben auf den abseitigen Pfaden durch. Nirgendwo ließe sich dies besser bewerkstelligen als im ökonomischen Dickicht der Städte.

Und ebenso wenig ist es Zufall, dass manch neoliberaler Vordenker dieses neue Leben und Überleben in der Stadt längst zum Credo aller urbanen Zukunftsvisionen ausgerufen hat. Der Ökonom Stefan Welzk etwa, der in der schleswig- holsteinischen Landesvertretung in Berlin arbeitet, ist überzeugt, dass die einzige wirtschaftliche Chance, die Berlin, das Armenhaus der Republik, habe, in der Ökonomie liege, die die neuen Zuwanderer nach Berlin brächten. "Eine Vielfalt von slawisch inspirierter Schattenwirtschaft", prophezeit Welzk, "wird die Legalökonomie überlagern, neben ihr wachsen und in sie eindringen." Diese "Symbiose einer grundlegalen, hochseriösen modernen Wirtschaft mit einer von Immigranten vitalisierten, wildwüchsigen Marginalökonomie" sei der spezifische Standortvorteil, den Berlin habe. "Sie bildet das Amalgam, von dem die Stadt leben wird."

Das freilich ist in der Tat eine andere Stadt, als sie sich Karl Schlögel vorgestellt hat. Zwar auch keine staatliche Veranstaltung mehr, aber eben auch keine Stadt der verantwortungsvollen und traditionsbewussten Stadtbürger. Denn nicht nur die Überlebenskünstler scheren sich wenig um die städtische Res Publica, sondern auch die Finanzjongleure und Lebenskünstler der "neuen Mitte". Sie haben dazu schlicht keine Zeit, denn auch sie können sich dem ökonomischen Druck nicht mehr entziehen. So kommt es zu einer neuen Spaltung in der Nutzung der Stadt, die nicht mehr nur Verlierer und Gewinner betrifft, sondern durch jeden selbst geht. Die Cafés sind zwar jeden Tag offen, aber nicht jeden Tag sitzen die gleichen Gäste in ihnen.

Werner Sewing, der Kritiker des Rollback ins 19. Jahrhundert, braucht sich also nicht zu fürchten. Nicht honorige Eigentümer und Patrone bestimmen die Zukunft der Stadt, sondern dubiose Briefkastenfirmen, rührige Pleitegeier, kreative Lebens- und Überlebenskünstler. Die Stadt der Zukunft ist kein geordneter Rückzug in die überschaubare Welt der Vergangenheit, sondern der wilde Aufbruch ins Chaos. Mehr als bisher werden in der Stadt des 21. Jahrhunderts die Inseln der Seligen neben denen derer liegen, die die Stadtgötter nicht mehr selig haben. Das Schattenreich der Globalisierung, wie der Architekturkritiker Wolfgang Kil die Städte und Regionen genannt hat, die im Abseits der globalen Wachstumsregionen liegen, hat auch manche Quartiere der deutschen Hauptstadt bereits verdunkelt.

Was ist die Zukunft der Stadt? Wer wird sie künftig bewohnen und wer nicht mehr? Wird sie noch plan- und beherrschbar sein, und wenn ja, wie? Wovon wird sie leben?

Um solchen und ähnlichen Fragen eine neue wissenschaftliche und empirische Grundlage zu verpassen, hat das Bundesministerium für Bildung und Forschung vor drei Jahren ein Forschungsprogramm mit dem ambitionierten Titel "Stadt 2030" aufgelegt. Seitdem sind 21 Städte und Stadtregionen in Deutschland, darunter Stuttgart, Görlitz, Kiel, die Städteregion Ruhr oder Guben, gewissermaßen Referenzstädte für die Stadtentwicklung der nächsten Generationen. Geforscht wird seitdem zu den Themen Stadtkultur, Demographie, soziale Stadt und städtische Ökonomie.

In einer ersten Zwischenbilanz des Vorhabens beklagt der Politologe Albrecht Göschel, der am Deutschen Institut für Urbanistik die Begleit- und Evaluationsforschung betreut, dass es im Hinblick auf mögliche Zukünfte der Städte bei den Verantwortlichen immer noch Denkblockaden gebe. Das gelte vor allem für die anwachsende soziale Ungleichheit, deren Thematisierung oder gar Anerkennung als städtische Realität immer noch einem "Tabubruch" gleichkomme. "Zunehmende Ungleichheit", schreibt Göschel, "kann weniger noch als die Stadtverkleinerung zum stadtentwicklungspolitischen Ziel erklärt werden, so dass langfristige ‚Bilder' dieser anderen Stadt kaum auftauchen."

Mit dieser Diagnose hat Göschel nur bedingt Recht. Es gibt diese Bilder, nur hat sie bislang keiner zur Kenntnis nehmen wollen. Auf der bereits erwähnten Berlin-Konferenz der Harvard-Universität im Februar 1999 staunten die Berliner Akteure nicht schlecht, als ihnen von den anwesenden US-Urbanisten ein paar Hausaufgaben mit auf den Weg gegeben wurden, die ihnen zu Hause noch nicht gestellt worden waren. "Hören Sie auf, von Ihrer Stadt als Ost-West-Drehscheibe zu reden. Akzeptieren Sie vielmehr, dass Berlin eine Grenzstadt ist, ein Fluchtpunkt für osteuropäische Migranten", rief der Bostoner Kulturwissenschaftler John Czaplicka der versammelten Prominenz aus Berlin zu. Und ganz nebenbei bescherte er den Berlinern jene Bilder, die Göschel in der Debatte um die Zukunft der Stadt und der politischen Handlungsspielräume so sehr vermisst. Statt sich einem städtebaulichen, sozialen oder kulturellen "Revival" zu verschreiben, sollten die Berliner lieber versuchen, jenen ein "Survival" zu ermöglichen, die die Versprechungen einer Dienstleistungsmetropole beim Wort nähmen.

Survival, das ist vielleicht der stärkste Begriff, den wir von der Zukunft der Stadt seitdem haben. Survival, das nimmt nicht nur die wachsende soziale Ungleichheit in den Städten wenn auch nicht zustimmend zur Kenntnis. Es ist zugleich ein Gegenprogramm. Survival heißt auch, jene Räume der Peripherie anzuerkennen und offen zu halten, in denen diese Überlebensökonomie- und Kultur Einzug gehalten haben.

Wie eine solche Politik des Survival aussehen könnte, ist derzeit allerdings erst in Umrissen erkennbar. Die Stärkung der ethnischen Ökonomie gehört ebenso dazu wie ein anderer Umgang mit Schattenwirtschaft, ganz so wie es der Berliner Staatssekretär für Wirtschaft und ehemalige Geschäftsführer der Berliner Industrie- und Handelskammer vor einiger Zeit formuliert hat: Der informelle Sektor, sagte Volker Strauch, habe auch Vorteile: "Es gibt hier Entwicklungen, die sich auch auf andere Teile der Wirtschaft positiv auswirken." Dies betreffe vor allem die Grenznähe und die in Berlin arbeitenden polnischen Pendler. Auch beim Thema Osterweiterung schlug Strauch neue Töne an. "Für Berlin mit seiner Grenznähe wäre eine sofortige Erweiterung ohne Einschränkung der Freizügigkeit das Beste." Er plädierte deshalb für eine "Politik des Augezudrückens". "Warum soll ein Pole, der mit einem Touristenvisum hier drei Monate mit seinem Führerschein fahren darf, ab dem vierten Monat plötzlich den deutschen Führerschein machen?" Hier müsse man vielmehr, wie auch in anderen Bereichen, "alle Ausnahmevorschriften und Ermessensspielräume nutzen, und zwar in dem Sinne, als wäre Polen jetzt schon Mitglied der EU und nicht erst in anderthalb Jahren". Strauchs Fazit: "Nur so können wir gegenüber anderen Regionen und Städten den Vorteil der Grenznähe ausnutzen."

Mit diesen Fragen hat Strauch, ob bewusst oder nicht, die Agenda einer neuen Stadtpolitik umrissen, der es nicht nur um Angebote für die urbanen Lebenskünstler geht, sondern auch um die Verbesserung der Bedingungen der Überlebenskünstler. Und das ist auch dringend nötig. Denn noch immer stellt die postmoderne, postindustrielle, poststaatliche und postprosperierende Stadt die wenigen Mittel, die ihr bleiben, einer fragwürdigen Standortpolitik und Wirtschaftsförderung zur Verfügung. Dabei sind die "neuen Unternehmer" längst da. Es sind die Unternehmer ihrer selbst, nicht nur Ich-AGs, sondern manchmal auch Ich-Genossenschaften und Sozialhilfebetrüger. Was sie eint, ist ihre Steuerschwäche, ihre Stärke ist die Selbstausbeutung. Neben den städtischen Sozialhaushalten sind sie die Garanten des sozialen Friedens. Sie zu unterstützen ist demnach dringend geboten. Das muss nicht einmal viel Geld kosten, sondern nur den Abschied von liebgewonnenen Besitzständen wie der Handwerksordnung oder dem Meisterprivileg.

Wohin also geht die Stadt der Zukunft? Die Antwort lautet: Nach vorn nur auf getrennten Wegen und mit verschiedenen Geschwindigkeiten. Mehr noch als bisher werden in Berlin und anderen europäischen Städten Erste und Dritte Welt nebeneinander leben. Und mehr noch als bisher wird die Erste Welt versuchen, sich die Dritte vom Leibe zu halten. Diese neuen Mauern nicht zuzulassen ist vielleicht die dringendste Aufgabe der Städte im 21. Jahrhundert. Räume offen zu
halten, Trennendes durchgängig zu machen, das könnte sein, was John Czaplicka in Harvard mit Survival-City angedeutet hatte. Natürlich, da hat Albrecht Göschel Recht, rüttelt man damit nicht mehr an der Ungleichheit als solcher.

Doch der Anspruch, gleiche Lebensverhältnisse für alle zu schaffen, ist sowieso längst abgeschafft. In Berlin mit seinem Schuldenberg von 50 Milliarden hat die rot-rote Landesregierung nichts dringender zu tun gehabt, als auch nach dem Crash der Bankgesellschaft für faule Immobilienkredite mit einer "Risiokabschirmung" zu bürgen. Die Summe: 21,6 Miiliarden. Das ist sogar mehr als ein ganzer Landeshaushalt.

DRUCKVERSION
nach oben