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DRUCKVERSION "Die Zeit der polnischen Autoren in Berlin kommt erst noch"

Die Schriftstellerin Magdalena Parys kam 1984 nach Westberlin und machte Streifzüge durch den Osten. Heute schreibt sie Berlinromane auf Polnisch. Ein Gespräch über die Teilung, Identität und andere Zufälle

Von UWE RADA

Frau Parys, was sehen Sie, wenn Sie in Berlin am Bahnhof Friedrichstraße stehen? Eine großstädtische Szene? Oder immer noch den Tränenpalast aus der Zeit der Teilung der Stadt?

Wenn ich südlich der S-Bahn stehe, sehe ich die große, moderne Stadt. Wenn ich vor dem Tränenpalast stehe, ist sofort alles wieder da. Das ist zwar heute eine Gedenkstätte. Aber es fällt mir schwer, da ruhig zu bleiben.

Warum nicht?

Weil das teilweise immer noch so aussieht, wie es damals aussah. Ich sehe immer noch die Schlangen vor der Abfertigung. Die Schilder. Westberlin. Transitreisende. Letzteres betraf mich, weil ich damals einen polnischen Konsularpass hatte, um über Ostberlin und die DDR nach Polen fahren zu können. Und dann die Kabinen, wo du stehst und wartest, und der Grenzer schaut dich an, und du weißt, der entscheidet jetzt über dich, ohne eine Miene zu verziehen.

Durch den Tränenpalast mussten auch die Helden Ihres Debütromans Tunnel. Sie mussten in Ostberlin auskundschaften, in welchem Keller in der Brunnenstraße der Tunnel enden soll, der im Wedding beginnt.

Ja, das waren verrückte Kerle, die viel zu jung und unerfahren waren, um wirklich Angst zu haben. Genau wie ich damals, wenn ich nach OstBerlin ging, um die Stadt zu erkunden. Meiner Mutter sagte ich, dass ich nach der Schule zum Training muss, aber in Wirklichkeit bin ich nach OstBerlin gegangen. Ich weiß bis heute, wie es dort ausgesehen hat. Wie die Höfe ausgesehen haben. Wie die Straßen verliefen. Aber als ich Tunnel geschrieben habe, bin ich dort kein einziges Mal hingegangen.

Sie haben die Topografie vor Ort aus dem Gedächtnis beschrieben?

Genau. Ich bin keine Reporterin, ich schreibe Bücher. Sobald ich etwas mit eigenen Auge sehe, nimmt es mir mein literarisches Atmen. Dann kann ich es nicht mehr beschreiben. Beim Schreiben gilt also: So wenig Realität als möglich. Erst als Tunnel dann auf Deutsch erschienen ist, bin ich da nochmal hin und hab das Haus aufgesucht, in dem der Fluchttunnel endete. Heute ist dort eine Boutique, in der habe ich mir ein kleines, schönes, unbrauchbares Kleid gekauft.

Aber Sie wussten vorher, um welches Haus es geht?

Ich wusste genau, welches Haus es ist. Ich war in der Gegend vor fast dreißig Jahren gewesen – aus Zufall. So musste es in meinem Kopf bleiben. Und wissen Sie was? Als ich das Kleid gekauft habe, sprach mich eine ältere Frau an und erzählte mir, dass aus diesem Haus Leute geflüchtet sind.

Ist der Tunnel, im Roman titelgebend, auch ein Schlüssel für Ihre Sicht auf Berlin? Prägt uns denn die Zeit der Teilung immer noch stärker als wir das glauben? Mehr als der kathartische Moment des Mauerfalls?

Ich habe den Eindruck, dass wir in Berlin, aber auch in Deutschland, mehr gespalten sind als je zuvor. Das sagt aber keiner, weil es unpopulär ist. Zumindest sagt es keiner öffentlich. Aber am Küchentisch ist man schnell bei der Frage, ob man aus dem Osten kommt oder aus dem Westen. Ich wohne im Süden Berlins in einer sehr internationalen Siedlung, wo Chinesen, viele türkische Familien, arabische, polnische, russische Familien leben, also alles, was es in Berlin gibt. Wenn ich dort bei einem Fest eine Nachbarin frage, woher sie stammt, dann sagt mir diese Nachbarin mit Kopftuch, sie stamme aus Bayern, und sie sei in einem bayerischen Dorf aufgewachsen und sie sehne sich sehr danach.

Was schließen Sie daraus?

Die Geschichte zeigt mir, dass wir nicht wirklich zu dem stehen können, woher wir wirklich kommen.

Warum wollen Sie diese Nachbarin auf ein Herkunftsland festnageln, in dem sie nicht zuhause war, während sie sich in Bayern zuhause fühlte?

Ich kann mir schon vorstellen, dass sie sich in Bayern wohl gefühlt hat. Aber sie spricht mit einem starken Akzent. Sie hat ihre Großfamilie um sich. Sie fährt regelmäßig dorthin, woher ihre Eltern stammen. Darüber wollte ich mich mit ihr unterhalten. Und was bekomme ich als Antwort? Ich komme aus Bayern. Wenn ich mich mit Leuten unterhalte, die vor der Wende in Prenzlauer Berg groß geworden sind, reden sie lieber über das, was sie nach der Wende gemacht haben.

Was wird da ausgeblendet und warum?

Man leugnet etwas. Ich weiß noch nicht genau, was. Wenn ich die Antwort kennen würde, würde ich wahrscheinlich keine Bücher schreiben. In meinen Büchern suche ich nach diesen Antworten. Aber vielleicht sind diese Leute auch nur ein Spiegel meiner selbst.

Ist das auch der Grund, warum Sie dem Mauerfall misstrauen und lieber über die Zeit der Teilung schreiben? Weil die immer noch nicht überwunden ist? Und weil sie teilweise schon vergessen ist.

Ich glaube schon, aber auch das weiß ich nicht genau. Ich weiß nur, dass mich immer nur die Menschen interessieren, die Politik und die große Geschichte sind nur eine Kulisse. Aber wenn wir schon bei der Politik sind: Meiner Meinung nach ist die Zeit der Teilung lange noch nicht verarbeitet. Alles was heutzutage im Osten Deutschlands passiert, ist der beste Beweis dafür und deswegen als literarische Vorlage für so jemand wie mich hervoragend.

Die Teilung ist das eine, das andere ist das Thema Flucht, und dann gibt es noch die Fluchthelfer. Deren Tun umweht ja bis heute etwas Geheimnisvolles. Für die kalten Krieger in Westberlin waren sie Helden. Die Linke und die alternative Szene hat darum eher einen großen Bogen gemacht. Halten Sie denen mit ihren Büchern nun einen Spiegel vor? Sozusagen als Unbefangene?

Als ich diese Geschichte zu schreiben begonnen habe, hatte ich keine Ahnung von Fluchthelfern, geschweige von deren Motivation oder Darstellungsweise. Ich wollte auch nicht über einen Tunnel schreiben, sondern über meine alte Schule. Aber bald habe ich gemerkt, dass mein Personal nicht ausreicht, dass ich mehr über die damalige Zeit erfahren muss. Ich hab angefangen wie eine Wilde zu lesen, war wie besessen. Ich wollte die große Geschichte Deutschlands aus verschiedenen Perspektiven erzählen, nicht nur aus einer. Irgendwann kam dann die Perspektive eines Lehrers dazu, der aus dem Osten geflohen war, ohne, dass ich wusste, wie. Und dann kam die Phantasie ins Spiel. Damals wusste ich noch gar nicht, wie man einen Tunnel gräbt.

Wie gräbt man einen Tunnel?

Gar nicht so einfach, man musste viel mehr beachten als nur die Grenzsoldaten. Zum Beispiel die Kanalisation, Bodenart, Rohrbrüche usw. Es war nicht nur eine rein körperliche Arbeit. Ich hab mich reingelesen in Artikel aus den sechziger Jahren. Dabei habe ich festgestellt, dass es dort die Fluchthelfer, die in meinem Buch vorkommen, gar nicht gab.

Ihr Fluchthelfer sind Menschen, die aus altruistischen Motiven handeln. Die wirklichen Fluchthelfer waren entweder kommerziell oder politisch?

Den damaligen Presseurteilen nach waren es oft Leute, die vor allem aus kommerziellen Gründen gehandelt haben, aber man muss gründlich, am besten zwischen den Zeilen lesen, mehr Fachbüchern und Zeitzeugen als der damaligen Presse trauen, die wie üblich ihre eigene Zwecke verfolgte. Auch im Westen. Erst nachdem ich das Buch geschrieben hatte, habe ich jemanden getroffen, der einfach menschlich handelte. In den Medien damals kam so was nicht vor. Dabei waren das Leute, die nach dem Mauerbau festgestellt haben, dass der Kommilitone, der noch vor ein paar Tagen neben ihnen saß, plötzlich nicht mehr da ist.

Sie gehören zu den wenigen polnischen Gegenwartsautoren, deren Bücher in Berlin spielen. Die Berlinromane schreiben. Für türkische Autoren oder wie für tschechische wie Jaroslav Rudiš ist das eine Selbstverständlichkeit. Warum tun sich denn polnische Autorinnen und Autoren mit dem Schauplatz Berlin so schwer?

Ich kann da nur von mir reden. Ich bin mit 13 Jahren in Berlin angekommen, und ich musste Berlin auf meine Art und Weise verarbeiten. Ich könnte zum Beispiel nicht über Danzig schreiben, obwohl ich in Danzig geboren bin, weil ich Danzig nicht so gut kenne wie Berlin. Das gleiche gilt für Stettin, wo ich aufgewachsen bin. Ich lebe fast dreißig Jahre in dieser Stadt, habe sie mit und ohne Mauer erlebt. Wenn ich heute am Bahnhof Friedrichstraße stehe, um auf Ihre erste Frage zurückzukommen, kenne ich dort jeden Winkel. Und ich kann beschreiben, wie sie die Friedrichstraße Jahr für Jahr verändert hat.

Heißt das, dass Sie sich mit dem Schreiben die Stadt noch einmal in einer ähnlichen Art und Weise angeeignet haben, so wie Sie es ganz real auch tun mussten, um hier heimisch zu werden. Ist also über Berlin zu schreiben ein Akt, um die Exilantin in Ihnen endgültig hinter sich zu lassen?

Vielleicht. Bei mir ist alles aber sehr intuitiv. Ich bin kein Autor, der besonders gut mit Konzepten umgehen kann. Wenn ich ein Konzept schreibe, kommt am Ende sowieso etwas ganz anderes heraus. Aber natürlich war es ein Akt der Aneignung, und er begann mit der Beschreibung der Schulzeit.

Warum?

Auch das war eine Art Tunnel. Als ich als Kind nach Berlin kam, war ich in einem Tunnel.

Man muss dazu sagen, dass Sie 1971 in Danzig geboren wurden und mit ihren Eltern 1974 nach Stettin gezogen sind. 1983 sind dann Ihre Eltern nach Westberlin, sie blieben zunächst bei ihrer Großmutter und kamen dann ein Jahr später nach.

Fällt ihnen da was auf? Ich habe schon immer in den ehemaligen deutschen Städten gelebt: Danzig, Stettin. Ich kannte keine andere Architektur als die deutsche und trotz dem nach der Ankunft war Berlin für mich total fremd. Es war wie ein Tunnel, dunkel, unbekannt und unverständlich. Warum? Weil es immer die Sprache ist, die jede Tür eröffnet. Mein persönlicher Tunnel war die Schulzeit, die Integration in diese Gesellschaft. Ich kam auf eine deutsche Schule, ohne dass ich ein Wort deutsch sprach, und wurde sofort ins kalte Wasser geworfen.

Ihre Eltern kamen also nicht als Aussiedler.

Mein Stiefvater hatte eine deutsche Mutter, die in Kiel geboren wurde. Sie war eine Deutsche, die 1945 mit einem Zwangsarbeiter, der bei ihrem Vater in einer Ziegelfabrik gearbeitet hat, nach Stettin gezogen ist und dort nach dem Krieg geblieben war. Wir kamen also nicht als Aussiedler, jedenfalls sahen das die deutschen Behörden so. Darüber, vor allem jedoch über meine deutsche Oma, die nie richtig polnisch gelernt hat, habe ich grade einen Roman geschrieben, er erscheint bald in Polen.

Wie haben Sie damals gelebt?

Wir lebten in einem kleinen Zimmer zu viert in einem Heim, meine Mutter, mein Stiefvater, mein Bruder und ich. Ich habe mich gefragt, warum wir unsere Wohnung in Polen aufgeben, um in so einem kleinen Zimmer zu leben.

Sehr aktuelle Fragen.

Ja, wir waren zwar nicht vor dem Krieg direkt geflohen, aber auch in Polen herrschte damals noch vor kurzem Kriegsrecht. Dennoch haben sich meine Eltern entschieden, hierherzukommen. Mein Bruder lebt heute übrigens in Hamburg, und mein Stiefvater ist zurück nach Polen.

Welchen Eindruck hatten Sie von der Stadt selbst?

Ich erinnere mich, wie es plötzlich unglaublich viele Lichter gab, wie wir von einer dunklen Umgebung in eine Welt des Neonlichts gefahren waren. Meine Eltern haben mir dann den Ku'damm gezeigt, weil sie nur die schönen Seite von Westberlin zeigen wollten. Das war im Dezember, also in der Vorweihnachtszeit, wo der Westen alles aufgefahren hat, um den Kontrast zum Osten umso deutlicher zu machen. Ich habe das alles gehasst, wollte zu meinen Freunden und zu meiner Oma zurück nach Danzig.

Sie waren auch in der Schule erstmal auf Distanz.

Es gab da eine Lehrerin, von der ich wusste, dass sie Polnisch sprach, und ich habe mich gefragt, warum sie mit mir Deutsch spricht. Ich hab mit ihr Polnisch gesprochen, und sie hat gesagt, sie versteht mich nicht. Ich habe geantwortet, dann verstehe ich Sie auch nicht. Meine Mutter kam vom Elternabend zurück und teilte mir mit, wenn es so weiter geht, wird man mich in eine Sonderklasse schicken. Das war der Punkt, wo ich begriffen habe, dass ich Deutsch lernen muss.

Wann war denn der erste Moment, in dem Sie gesagt haben: Nun bin ich hier zuhause. Das ist meine Stadt.

Ehrlich gesagt, danach ging es ziemlich schnell. Das war, als meine Lehrerin gefragt hat, wer von uns ein Gedicht aufsagen kann. Ich hab mich als einzige gemeldet und aus Schillers Räubern vorgetragen. Das hatte ich gelernt, weil es in dieser Sequenz ganz viele "R"s gab. Ich wollte damals lernen, das "R" ohne zu Rollen auszusprechen.

Den Tränenpalast kannten sie damals von Ihren Streifzügen durch Ostberlin. Was haben Sie dort gesucht? Hat Sie Ostberlin an Polen erinnert?

Es war Neugier. Ich hatte mir aus der Bibliothek ein Bilderbuch über Berlin noch vor dem Mauerfall ausgeliehen. Und nun stand da diese Mauer. Das habe ich nicht verstanden. Ich wollte sehen, wie es dort aussieht. Wie das mit der Kanalisation funktioniert, warum die Straßenbahn nicht mehr weiter fährt. West und Ost gehörten für mich zusammen.

Und wie es oberhalb der Geisterbahnhöfe aussieht.

Unbedingt. Wie oft bin ich nur deshalb mit der U-Bahn von Kreuzberg nach Wedding gefahren, um zu sehen, wie die Soldaten auf den Bahnhöfen stehen. Und wie oft habe ich Zigaretten für Leute geholt, obwohl ich nicht rauchte. Ich war noch ein Kind, aber es war eine Gelegenheit, mal wieder zum Bahnhof Friedrichstraße in den Intershop zu fahren. Viele haben sich das nicht getraut. Ich war für jedes Abenteuer bereit.

Sie konnten nach Ostberlin einreisen, weil sie einen polnischen Konsularpass hatten?

Als einzige in der Familie. Ich habe viele Briefe ans polnische Konsulat in der Lassenstraße geschickt. Ich bin in Danzig Langfuhr geboren, in der gleichen Ecke, wo Günther Grass geboren wurde. Meine Mutter besuchte die gleiche Schule, die auch er besuchte. Ich habe ständig von Langfuhr geträumt. Es ist eine Stadt, die niemanden loslässt, die Deutschen nicht und die Polen ebenfalls. Habe ganze Romane an das Konsulat als Begründung geschrieben, warum und wieso ich den Pass unbedingt bekommen muss. Es endete immer mit dem gleichen Satz: ich habe schreckliche Sehnsucht. Und wie durch ein Wunder habe ich nach anderthalb Jahren den Konsularpass bekommen. Damit konnte ich offiziell nach Polen einreisen und, was wichtig war, auch wieder ausreisen. Und ich konnte die DDR-Grenze überqueren ohne Geld umtauschen zu müssen, weil ich eine Transitreisende war. Deshalb immer die Frage der Grenzbeamten, was ich hier wolle. Und ich habe immer geantwortet, ich muss zu meiner Oma nach Danzig.

Welchen Eindruck machte Ostberlin auf Sie?

Es war unglaublich still. Die Menschen hatten keine Gesichter, wirkten wie ängstliche Schatten.

Und wie war der Unterschied zu Polen? Oder gab es keinen?

Polen war auch grau, und es hat auch nach Kohle gestunken. Aber Polen war auch immer laut. In der DDR haben die Leute in der S-Bahn geflüstert. In Polen wurde nicht mal während des Kriegsrechts geflüstert.

Ist denn bei den Streifzügen durch Ostberlin diese Topografie entstanden, die man später in Tunnel wiederfindet?

Auf jeden Fall. Tunnel war ein Buch, das ich schreiben musste. Das kam richtig aus mir heraus. Das zweite Buch, der Magier, war ein Buch, das ich schreiben wollte. Das hatte sehr viel mit den aktuellen politischen Gegebenheiten zu tun.

Sie haben im Magier auch wieder einen weißen Fleck beschrieben: Es geht um Fluchtgeschichten, nicht nur aus der DDR, sondern auch den anderen sozialistischen Ländern, über Bulgarien in den Westen. Warum war das bis dahin so unbekannt? Immerhin haben fast 5.000 Menschen diese Fluchtroute über den Balkan gewählt, nur eben in anderer Richtung als heute?

Das ist durch Zufall durch einen Wissenschaftler bei der Stasiunterlagenbehörde entdeckt worden. Dieser Stefan Appelius ist auf eine Akte gestoßen und hat dann mehrere Fälle gefunden, die er rekonstruiert hat. Damit wusste er mehr, als man in Bulgarien offiziell zu wissen vorgab. Dann kam es in die Medien, zum Spiegel und zur New York Times.

Der Fluchtweg über Bulgarien war im Grunde eine Falle. Die bulgarische Grenze zu Griechenland oder zur Türkei galt als wenig gesichert, eine fast sichere Möglichkeit zu fliehen also, wie es schien.

Es war tatsächlich eine Falle. Wer damals über die Grenze von Bulgarien nach Griechenland oder in die Türkei kam, dachte nicht selten, er ist schon frei. Was sie nicht wussten, war, dass die Stasi über den bulgarischen Geheimdienst die Finger im Spiel hatte. Die DDR hatte den Bulgaren für jeden Flüchtling, der nicht zurückkam, eine bestimmte Summe gezahlt.

Der letzte Erschossene, Michael Weber, hat Sie dann zu ihrem zweiten Roman inspiriert.

Die Geschichte von Michael Weber hat der Spiegel in einem Text mit dem Titel "Der letzte Schuss" aufgegriffen. Es war Ende 1989 als er in Bulgarien erschossen wurde. Dieser sinnlose Tod, aber vor allem das Leid seiner Eltern hat mich sehr erschüttert. Ihr Leid war der Auslöser für den Roman.

Der Magier ist aber, mehr noch als der Tunnel, auch ein Berlinroman. Die Leiche eines Stasimannes wird in einem Abrisshaus in Neukölln gefunden, in dem auch Romafamilien leben. Wie schreibt man denn einen Roman, der unter anderem in Neukölln spielt, ohne in die Klischeefalle zu treten?

Indem man darüber nicht nachdenkt und keine Angst vor Klischees hat. Unser Leben ist ein Klischee. Egal, was wir sagen und wie sehr wir uns davon distanzieren, handeln wir nach bestimmten Mustern, ganz egal, ob wir in Zehlendorf leben oder in Neukölln. Die Herausforderung besteht darin diese Klischees so zu beschreiben, dass man sie sofort erkennt aber dabei nicht einschläft. Nehmen wir meinen Kommissar Kowalski, er lebt in der Bürknerstr, dort trinkt er und dort ermittelt er, geht in einen naheliegenden Park mit seinem Hund spazieren, sieht dort im Sandkasten Drogenspritzen. Er wundert sich nicht, dass er sie sieht, er geht weiter mit seinem Hund und denkt weiter über seinen Fall nach.

Gehört es zum Klischee auch, dass fast jeder Ihrer Protagonisten im Magier einen polnischen Nachnamen hat?

So ist es nun mal. Schauen Sie auf die Lieferwagen, die sie in der Stadt sehen. Wie viele polnische Namen finden Sie da? Gut, manche sind eingedeutscht, aber wer es will, kann sie erkennen, all die Nowaks, Kowalskis, Bralczyks und so weiter. Selbst der Opa meines deutschen Mannes hat einen polnischen Namen. Das musste ich in dem Buch grotesk verarbeiten.

In manchen Rezensionen in Polen hat man sich darüber lustig gemacht.

Journalisten haben mich danach immer und immer gefragt aber lustig gemacht? Und wenn, dann zeigt das nur, wie wenig man dort über Berlin weiß.

Sie haben für den Magier 2015 den Literaturpreis der Europäischen Union bekommen. Warum ist das Buch bis heute nicht ins Deutsche übersetzt?

Die Zeit, in der Autorinnen und Autoren aus Polen und anderen östlichen Ländern automatisch übersetzt wurden, ist vorbei. Es gab da diesen Höhepunkt im Jahr 2000 als Polen Gastland auf der Frankfurter Buchmesse war, aber danach ging es peu a peu bergab.

Aber das ist ein Berlinroman.

Irgendwie schon lustig, ein Berlinroman, den fast alle Länder in Europa gekauft haben außer den Deutschen. Vielleicht dauert es ja noch eine Weile, um zu erkennen, dass auch polnische Berliner solche Geschichten erzählen können. Ich glaube, die Zeit der polnischen Autoren in Berlin kommt erst noch.

Autoren wie Saša Stanišić sind in einem ähnlichen Alter wie Sie nach Berlin gekommen, nur eben sehr viel später. Er aber hat sich dafür entschieden auf Deutsch zu schreiben. Der Kriegsflüchtling aus Bosnien wurde ein deutscher Schriftsteller. Sie leben seit 1984 in Berlin und haben sich mit ihrem ersten Roman Tunnel, den Sie auf Polnisch schrieben, entschieden, eine polnische Schriftstellerin zu werden. Warum?

Das war ein Zufall. Der Anfang von Tunnel war, wie gesagt, eine Erzählung über meine Schule, eine Erzählung aus der ein Roman wurde. Ich hatte damals keine Ahnung, dass ich irgendwann wirklich Schriftstellerin werde. Ich habe auch ein wenig aus Angst gehandelt, ich dachte, was mache ich wenn der Lehrer, um den es in der Erzählung geht, es in die Hände bekommt und beleidigt ist, also habe ich es einfach auf Polnisch geschrieben. Nach dem Tunnel kamen ganz viele Angebote aus Polen. Das war sehr verführerisch. Die Angebote kamen nicht aus Deutschland, sie kamen von den großen polnischen Verlagen. Es ist natürlich angenehm, ein zweites Buch zu schreiben, von dem sich der polnische Verlag sehr viel verspricht. So hat es sich ergeben.

Sie hätten den Magier auch auf Deutsch schreiben können.

Das wäre mir sogar lieber gewesen. Viele Dialoge habe ich tatsächlich zuerst auf Deutsch geschrieben. Wie oft saß ich da und überlegte, wie das bloß auf polnisch heißen konnte. Meine Kommissare Kowalski und Tschapieski sind so Berliner durch und durch, sie reden ihre Kneipensprache, und auf einmal muss ich das ins Polnische bringen. Wie heißt auf polnisch
Jetränke oder Molle mit Korn? Ehrlich gesagt, das weiß ich bis heute nicht. Deshalb fluchen sie auch so viel, viel mehr als sie es auf Deutsch gemacht hätten. Ey, Alter, komm her, das lässt sich nicht so einfach ins Polnische übertragen. Und schwer ist es auch gewesen, weil ich in Berlin auf Deutsch denke.

Eine Berliner Autorin schreibt einen Berlinroman auf Polnisch, der in Berlin erst entdeckt werden muss.

Schön blöd. Mein Schicksal. Ich hab wohl keinen einfachen Weg gewählt.


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