themenosteuropamein riesengebirge
DRUCKVERSION Mein Riesengebirge
Die allererste Wanderung in meinem Leben führte mich durchs Riesengebirge
von UWE RADA
Die allererste Wanderung in meinem Leben führte mich durchs Riesengebirge. Allerdings blieb sie mir nicht in guter Erinnerung. Ich war vier Jahre alt, und wir gingen mit unseren Verwandten aus der damaligen Tschechoslowakei hoch auf den Kamm zur polnischen Grenze. Dort verbiss sich ein Schäferhund in den Arm eines Mannes. Ich muss verstört gewesen sein bei diesem Anblick, denn der Schrecken war so groß, dass ihn auch die Erklärungen meiner Eltern nicht vertreiben konnten. Sie hatten mir gesagt, dass der polnische Grenzer eine Manschette getragen und den Hund nur abgerichtet habe.
Meine erste Wanderung war also kein unschuldiges Wandeln auf den Spuren des Rübezahls, keine frühkindliche Neugier auf die Grenzregime zwischen sozialistischen Bruderländern und auch keine, wie man heute sagen würde, Bildung für nachhaltige Entwicklung durch meine Eltern. Viel eher war sie ein Schock, und ich kann von Glück sagen, dass es kein Schock fürs Leben war.
Selbst die Frage, ob sich alles so zugetragen hat, wie es mir mein Gedächtnis nahelegt, kann ich nicht mit Sicherheit beantworten. Aber vielleicht ist das so mit dem Wandern. Wer durch Wälder und Berge geht oder den Ufern von Seen und Flüssen folgt, durchmisst immer einen mythisch oder literarisch aufgeladenen Raum, der schnell zu einem Phantasieraum werden kann, vor allem bei Kindern. Manchmal begegnen einem Hunde oder Geister so wie es mir als Achtjährigem ging, als ich in einem Wald in Jugoslawien plötzlich ein Klavier spielen hörte. Das Wandern als Erleben eines noch nicht geschriebenen Märchens. Heute bin ich froh über diese Kindheitserlebnisse. Vielleicht haben sie meine Vorstellungskraft befördert.
Erst mein Großvater, der, der nicht aus Tschechien stammte, sondern aus Südtirol, nahm mich dann mit zu Streifzügen am Fuße des Hohenstaufen und lehrte mich, Bäume zu bestimmen. Wie ich zugeben muss, mit mäßigem Erfolg.
Eine Form des Lesens
Wandern also. Auf eigenen Füßen Raum und Zeit durchstreifen und das, was davon geblieben ist, lesen lernen. Auch das, was kommt womöglich. Als ich vor kurzem in der Sächsischen Schweiz wanderte, war ich erschrocken, wie großflächig der Fichtenbestand vom Borkenkäfer befallen war. Aber unter den absterbenden Fichten wuchsen schon die kleinen Buchen, der Mischwald von morgen. Ich habe die Landschaft gelesen wie ein Buch. Ich war vertieft in das, was gerade passierte, und gleichzeitig hatte ich eine Vorstellung davon, wie die Geschichte ausgehen könnte. Mit einem Happy End, einem Waldumbau, den die Natur von alleine bewerkstelligt.
Und so wie man in einem Buch lesen, blättern, stöbern kann, ist es auch beim Wandern. Unvermutet halte ich an, schaue mich um, blättere weiter, gehe einige Stellen zurück, bleibe an einem Absatz hängen, bin neugierig auf den Cliffhanger am Ende des Kapitels.
Vielleicht habe ich dieses Lesen der Landschaft und der Natur – unbewusst – in den Kinderjahren im Riesengebirge gelernt. Oft haben wir unsere Verwandten in Trutnov (Trautenau) nicht besucht. Aber das spielte keine Rolle, denn die Berge und der Rübezahl waren schon vor meiner Geburt mit meinen Großeltern nach Deutschland gezogen. In der gläsernen Vitrine entdeckte ich Sammeltassen mit Bergmotiven, ein Rübezahl aus Holz stand auf der Kommode, und wenn mich mein Opa auf den Schoß nahm, gab er mir Apfelschnitze und sagte in diesem unnachahmlich böhmisch-deutschen Dialekt "Min Jingerla".
Als mein Großvater starb, war mein Vater für das Riesengebirge zuständig, das er 1951 mit seinen Eltern verlassen hatte. Einmal schenkte er mir zu Weihnachten ein Buch, dessen Titel ich nicht verstand, obwohl ich schon lesen konnte. Es hieß Krkonoše. Das ist das Riesengebirge, erklärte mein Vater, er sprach das fremde Wort laut vor, damit ich es richtig ausspreche. Kr-konosche, wiederholte der Vater, die beiden "o" ganz kurz und offen gesprochen wie bei einem doch, das "š" stimmlos wie das "sch" in Schule. Ich blätterte im Bildband und schaute mir die Fotos an, sie zeigten runde Berge, auf den Kuppen unbewaldet, Berge mit Glatzen.
Die Macht der Berge
Jahrzehnte später hatte ich wieder Fotos angeschaut aus dieser Ecke Europas, die mich seitdem nie losgelassen hatte. Es waren Fotos aus einem Buch der tschechischen Bürgerinitiative "Antikomplex" mit dem Titel "Das verschwundene Sudetenland". Ich verglich die Aufnahmen aus der Zeit vor dem Krieg mit denen aus der Gegenwart, die aus der gleichen Perspektive aufgenommen waren. Das "Verschwundene" am Sudetenland waren vor allem seine Dörfer. Es waren die Siedlungen in den Bergen, die diese Archäologie des Verschwindens zeigte, nicht die Berge selbst. Die waren höchstens dort, wo es einmal Lichtungen gegeben hatte, wieder bewaldet.
Vielleicht war mir erst mit diesen Fotografien vor Augen geführt worden, welche normative Kraft das Faktische der Berge haben kann. Sie sind es, die sich dem Verschwinden entgegenstellen, sie sind es auch, die – mit den Tälern zwischen ihnen – dem "Vorher" und "Nachher" der Fotografien den Ausschnitt geben, um das Verschwinden überhaupt erst erkennen zu können. Flüsse können begradigt und Wälder gerodet werden. Aber Berge, diese geologischen Konstanten, hat man selten versetzt in der Geschichte, auch wenn eine Redensart das Gegenteil vermuten lässt. Die Dörfer waren auf diesen Fotografien von "Antikomplex" verschwunden, die Täler und Hänge, auf denen die Menschen gesiedelt hatten, waren noch die selben.
Selbst die Mythen, die in diesen Bergen lebten, haben die historischen Zäsuren überlebt. Mein Freund Mateusz Hartwich hat in seiner Doktorarbeit über den Rübezahl gezeigt, wie die Aneignung des Berggeistes die Aneignung der ehemals deutschen Gebiete durch die polnischen Pioniere auf der polnischen Seite der Sudeten begleitet hatte. Selbst die Entwicklung des polnischen Tourismus im Riesengebirge folgte den Pfaden der deutschen Tourismusgeschichte der Vorkriegszeit.
Bei meinem letzten Besuch des Riesengebirges vor der Pandemie konnte ich mich selbst davon überzeugen. Wir waren von Szklarska Poręba Górna über Szklarska Poręba Średnia hinunter gegangen nach Szklarska Poręba Dolna und wandelten damit, wie wir erst später erfahren haben, auf den Pfaden meiner Schwiegermutter, die als Kind von Oberschreiberhau nach Unterschreiberhau gegangen war; da war sie nur wenig älter als ich bei meiner ersten Wanderung im Riesengebirge.
Entdeckung und Schutz
Der Tourismus ist, man kann es nicht anders sagen, ein Segen für das Riesengebirge. Nicht so sehr der Skizirkus, der auch am Schüsselberg oberhalb von Spindlermühle die Natur in Mitleidenschaft zieht und die "Berge mit Glatzen", da wo noch ein paar Haare stehen geblieben sind, endgültig kahl rasiert. Aber dort, wo gewandert wird, ist er der große Vater oder die große Mutter des Entdeckens. Ja, sogar eine Schule des Sehens.
Gleichzeitig ist der Tourismus selbst ein Gegenstand des Wandels, der seit seinem Beginn verschiedene Stadien durchlaufen hat, die es für die Entdeckung einer Landschaft als touristischen Ort braucht. Zuerst galt das Riesengebirge als schroff und unwirtlich, dann kamen die Romantiker und entdeckten seine bizarren Felsen und tiefen Täler, schließlich verbreiteten Reiseführer diese Entdeckungen, bis dann die Investoren auftauchten und Hotels bauten. Die Landschaft wurde nun als Sehenswürdigkeit vermarktet.
Gleichzeitig hatte sich auch die Landschaft verändert. Die Glatzen auf den Bergen kommen nicht von ungefähr. Denn Rodungen gehörten zur Bewirtschaftung der Wälder, zur Herstellung von Glas, zur Landwirtschaft. Nicht um Schönheit ging es in den Bergen, sondern ums Überleben. Viele der Zeitgenossen, die im 18. Jahrhundert hoch zur Schneekoppe stiegen, von Flinsberg aus zum Heufuder wanderten oder auf der böhmischen Seite über die Iserwiese, haben – als Reisende, Schreibende, Touristen – von diesem Überlebenskampf berichtet. Ihre oft bis heute aktuellen Berichte können wir in diesem Buch endlich wiederentdecken.
Haben sie die Region deshalb zerstört? Natürlich nicht. Denn ohne Tourismus wäre die Abwanderung, die mit dem Beginn der Industrialisierung einsetzte, weitergegangen und ein "verschwundenes" Sudetenland hätte es dann womöglich schon vor dem Krieg gegeben.
Dem Rübezahl begegnet
Auch ich war bei meiner ersten Wanderung ein Tourist, auch wenn ich gerade erst auf den Beinen stehen konnte. Es muss wohl Liebe auf den ersten Blick gewesen sein. Immer wieder kam ich in dieses Gebirge, die Heimat meines Vaters und seiner Eltern, die Heimat des Rübezahl und die Heimat all der Geschichten, die ich als Kind im Westdeutschland der sechziger Jahre zu hören bekam. Und natürlich das Erschrecken, das mir damals beim Anblick des Schäferhundes an der polnischen Grenze in die Glieder gefahren war.
Es war nicht mein einziges Erschrecken im Riesengebirge geblieben. Daran hatte ich denken müssen, als ich vor einiger Zeit wieder Hana und Aleš, meine Verwandten in Trutnov, besucht hatte. Wir hatten über meinen Großonkel Josef gesprochen, der als tschechischer Binnenschiffer 1948 einen in Ungnade gefallenen Politiker über die Elbe in den Westen gebracht hatte. Und plötzlich erinnerte ich mich wieder an meinen ersten Besuch in den Bergen. Ein böser Mann hatte mich erschrocken, erzählte ich den beiden, mit zerfurchtem Gesicht, stechendem Blick und einen furchteinflößenden Schnurrbart. Fast zitterte ich bei diesem Gedanken, erlebte die Erinnerung nicht nur gedanklich, sondern geradezu körperlich, bis Hana anfing zu lachen. Sie war damals dabei gewesen, hatte meine Angst mitbekommen, aber natürlich gewusst, dass ich mich nicht fürchten musste, denn der fremde Mann war kein Fremder, sondern ihr Vater.
Schrecken und Schönheit der Berge. Und der Phantasieraum, den sie hervorrufen. Ich bin mir heute sicher, dass ich damals dem Rübezahl begegnet sein musste, nur dass dieser sich der Gestalt des Vaters von Hana bemächtigt hatte. Aber so ist das dort droben, wo man dem Himmel schon näher ist als der Erde.
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von UWE RADA
Die allererste Wanderung in meinem Leben führte mich durchs Riesengebirge. Allerdings blieb sie mir nicht in guter Erinnerung. Ich war vier Jahre alt, und wir gingen mit unseren Verwandten aus der damaligen Tschechoslowakei hoch auf den Kamm zur polnischen Grenze. Dort verbiss sich ein Schäferhund in den Arm eines Mannes. Ich muss verstört gewesen sein bei diesem Anblick, denn der Schrecken war so groß, dass ihn auch die Erklärungen meiner Eltern nicht vertreiben konnten. Sie hatten mir gesagt, dass der polnische Grenzer eine Manschette getragen und den Hund nur abgerichtet habe.
Meine erste Wanderung war also kein unschuldiges Wandeln auf den Spuren des Rübezahls, keine frühkindliche Neugier auf die Grenzregime zwischen sozialistischen Bruderländern und auch keine, wie man heute sagen würde, Bildung für nachhaltige Entwicklung durch meine Eltern. Viel eher war sie ein Schock, und ich kann von Glück sagen, dass es kein Schock fürs Leben war.
Selbst die Frage, ob sich alles so zugetragen hat, wie es mir mein Gedächtnis nahelegt, kann ich nicht mit Sicherheit beantworten. Aber vielleicht ist das so mit dem Wandern. Wer durch Wälder und Berge geht oder den Ufern von Seen und Flüssen folgt, durchmisst immer einen mythisch oder literarisch aufgeladenen Raum, der schnell zu einem Phantasieraum werden kann, vor allem bei Kindern. Manchmal begegnen einem Hunde oder Geister so wie es mir als Achtjährigem ging, als ich in einem Wald in Jugoslawien plötzlich ein Klavier spielen hörte. Das Wandern als Erleben eines noch nicht geschriebenen Märchens. Heute bin ich froh über diese Kindheitserlebnisse. Vielleicht haben sie meine Vorstellungskraft befördert.
Erst mein Großvater, der, der nicht aus Tschechien stammte, sondern aus Südtirol, nahm mich dann mit zu Streifzügen am Fuße des Hohenstaufen und lehrte mich, Bäume zu bestimmen. Wie ich zugeben muss, mit mäßigem Erfolg.
Eine Form des Lesens
Wandern also. Auf eigenen Füßen Raum und Zeit durchstreifen und das, was davon geblieben ist, lesen lernen. Auch das, was kommt womöglich. Als ich vor kurzem in der Sächsischen Schweiz wanderte, war ich erschrocken, wie großflächig der Fichtenbestand vom Borkenkäfer befallen war. Aber unter den absterbenden Fichten wuchsen schon die kleinen Buchen, der Mischwald von morgen. Ich habe die Landschaft gelesen wie ein Buch. Ich war vertieft in das, was gerade passierte, und gleichzeitig hatte ich eine Vorstellung davon, wie die Geschichte ausgehen könnte. Mit einem Happy End, einem Waldumbau, den die Natur von alleine bewerkstelligt.
Und so wie man in einem Buch lesen, blättern, stöbern kann, ist es auch beim Wandern. Unvermutet halte ich an, schaue mich um, blättere weiter, gehe einige Stellen zurück, bleibe an einem Absatz hängen, bin neugierig auf den Cliffhanger am Ende des Kapitels.
Vielleicht habe ich dieses Lesen der Landschaft und der Natur – unbewusst – in den Kinderjahren im Riesengebirge gelernt. Oft haben wir unsere Verwandten in Trutnov (Trautenau) nicht besucht. Aber das spielte keine Rolle, denn die Berge und der Rübezahl waren schon vor meiner Geburt mit meinen Großeltern nach Deutschland gezogen. In der gläsernen Vitrine entdeckte ich Sammeltassen mit Bergmotiven, ein Rübezahl aus Holz stand auf der Kommode, und wenn mich mein Opa auf den Schoß nahm, gab er mir Apfelschnitze und sagte in diesem unnachahmlich böhmisch-deutschen Dialekt "Min Jingerla".
Als mein Großvater starb, war mein Vater für das Riesengebirge zuständig, das er 1951 mit seinen Eltern verlassen hatte. Einmal schenkte er mir zu Weihnachten ein Buch, dessen Titel ich nicht verstand, obwohl ich schon lesen konnte. Es hieß Krkonoše. Das ist das Riesengebirge, erklärte mein Vater, er sprach das fremde Wort laut vor, damit ich es richtig ausspreche. Kr-konosche, wiederholte der Vater, die beiden "o" ganz kurz und offen gesprochen wie bei einem doch, das "š" stimmlos wie das "sch" in Schule. Ich blätterte im Bildband und schaute mir die Fotos an, sie zeigten runde Berge, auf den Kuppen unbewaldet, Berge mit Glatzen.
Die Macht der Berge
Jahrzehnte später hatte ich wieder Fotos angeschaut aus dieser Ecke Europas, die mich seitdem nie losgelassen hatte. Es waren Fotos aus einem Buch der tschechischen Bürgerinitiative "Antikomplex" mit dem Titel "Das verschwundene Sudetenland". Ich verglich die Aufnahmen aus der Zeit vor dem Krieg mit denen aus der Gegenwart, die aus der gleichen Perspektive aufgenommen waren. Das "Verschwundene" am Sudetenland waren vor allem seine Dörfer. Es waren die Siedlungen in den Bergen, die diese Archäologie des Verschwindens zeigte, nicht die Berge selbst. Die waren höchstens dort, wo es einmal Lichtungen gegeben hatte, wieder bewaldet.
Vielleicht war mir erst mit diesen Fotografien vor Augen geführt worden, welche normative Kraft das Faktische der Berge haben kann. Sie sind es, die sich dem Verschwinden entgegenstellen, sie sind es auch, die – mit den Tälern zwischen ihnen – dem "Vorher" und "Nachher" der Fotografien den Ausschnitt geben, um das Verschwinden überhaupt erst erkennen zu können. Flüsse können begradigt und Wälder gerodet werden. Aber Berge, diese geologischen Konstanten, hat man selten versetzt in der Geschichte, auch wenn eine Redensart das Gegenteil vermuten lässt. Die Dörfer waren auf diesen Fotografien von "Antikomplex" verschwunden, die Täler und Hänge, auf denen die Menschen gesiedelt hatten, waren noch die selben.
Selbst die Mythen, die in diesen Bergen lebten, haben die historischen Zäsuren überlebt. Mein Freund Mateusz Hartwich hat in seiner Doktorarbeit über den Rübezahl gezeigt, wie die Aneignung des Berggeistes die Aneignung der ehemals deutschen Gebiete durch die polnischen Pioniere auf der polnischen Seite der Sudeten begleitet hatte. Selbst die Entwicklung des polnischen Tourismus im Riesengebirge folgte den Pfaden der deutschen Tourismusgeschichte der Vorkriegszeit.
Bei meinem letzten Besuch des Riesengebirges vor der Pandemie konnte ich mich selbst davon überzeugen. Wir waren von Szklarska Poręba Górna über Szklarska Poręba Średnia hinunter gegangen nach Szklarska Poręba Dolna und wandelten damit, wie wir erst später erfahren haben, auf den Pfaden meiner Schwiegermutter, die als Kind von Oberschreiberhau nach Unterschreiberhau gegangen war; da war sie nur wenig älter als ich bei meiner ersten Wanderung im Riesengebirge.
Entdeckung und Schutz
Der Tourismus ist, man kann es nicht anders sagen, ein Segen für das Riesengebirge. Nicht so sehr der Skizirkus, der auch am Schüsselberg oberhalb von Spindlermühle die Natur in Mitleidenschaft zieht und die "Berge mit Glatzen", da wo noch ein paar Haare stehen geblieben sind, endgültig kahl rasiert. Aber dort, wo gewandert wird, ist er der große Vater oder die große Mutter des Entdeckens. Ja, sogar eine Schule des Sehens.
Gleichzeitig ist der Tourismus selbst ein Gegenstand des Wandels, der seit seinem Beginn verschiedene Stadien durchlaufen hat, die es für die Entdeckung einer Landschaft als touristischen Ort braucht. Zuerst galt das Riesengebirge als schroff und unwirtlich, dann kamen die Romantiker und entdeckten seine bizarren Felsen und tiefen Täler, schließlich verbreiteten Reiseführer diese Entdeckungen, bis dann die Investoren auftauchten und Hotels bauten. Die Landschaft wurde nun als Sehenswürdigkeit vermarktet.
Gleichzeitig hatte sich auch die Landschaft verändert. Die Glatzen auf den Bergen kommen nicht von ungefähr. Denn Rodungen gehörten zur Bewirtschaftung der Wälder, zur Herstellung von Glas, zur Landwirtschaft. Nicht um Schönheit ging es in den Bergen, sondern ums Überleben. Viele der Zeitgenossen, die im 18. Jahrhundert hoch zur Schneekoppe stiegen, von Flinsberg aus zum Heufuder wanderten oder auf der böhmischen Seite über die Iserwiese, haben – als Reisende, Schreibende, Touristen – von diesem Überlebenskampf berichtet. Ihre oft bis heute aktuellen Berichte können wir in diesem Buch endlich wiederentdecken.
Haben sie die Region deshalb zerstört? Natürlich nicht. Denn ohne Tourismus wäre die Abwanderung, die mit dem Beginn der Industrialisierung einsetzte, weitergegangen und ein "verschwundenes" Sudetenland hätte es dann womöglich schon vor dem Krieg gegeben.
Dem Rübezahl begegnet
Auch ich war bei meiner ersten Wanderung ein Tourist, auch wenn ich gerade erst auf den Beinen stehen konnte. Es muss wohl Liebe auf den ersten Blick gewesen sein. Immer wieder kam ich in dieses Gebirge, die Heimat meines Vaters und seiner Eltern, die Heimat des Rübezahl und die Heimat all der Geschichten, die ich als Kind im Westdeutschland der sechziger Jahre zu hören bekam. Und natürlich das Erschrecken, das mir damals beim Anblick des Schäferhundes an der polnischen Grenze in die Glieder gefahren war.
Es war nicht mein einziges Erschrecken im Riesengebirge geblieben. Daran hatte ich denken müssen, als ich vor einiger Zeit wieder Hana und Aleš, meine Verwandten in Trutnov, besucht hatte. Wir hatten über meinen Großonkel Josef gesprochen, der als tschechischer Binnenschiffer 1948 einen in Ungnade gefallenen Politiker über die Elbe in den Westen gebracht hatte. Und plötzlich erinnerte ich mich wieder an meinen ersten Besuch in den Bergen. Ein böser Mann hatte mich erschrocken, erzählte ich den beiden, mit zerfurchtem Gesicht, stechendem Blick und einen furchteinflößenden Schnurrbart. Fast zitterte ich bei diesem Gedanken, erlebte die Erinnerung nicht nur gedanklich, sondern geradezu körperlich, bis Hana anfing zu lachen. Sie war damals dabei gewesen, hatte meine Angst mitbekommen, aber natürlich gewusst, dass ich mich nicht fürchten musste, denn der fremde Mann war kein Fremder, sondern ihr Vater.
Schrecken und Schönheit der Berge. Und der Phantasieraum, den sie hervorrufen. Ich bin mir heute sicher, dass ich damals dem Rübezahl begegnet sein musste, nur dass dieser sich der Gestalt des Vaters von Hana bemächtigt hatte. Aber so ist das dort droben, wo man dem Himmel schon näher ist als der Erde.
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