themenosteuropawo liegt sankt petersburg?

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DRUCKVERSION Wo liegt Sankt Petersburg?

Das Verhältnis der größten Stadt an der Ostsee zu ihren Nachbarn war von Anfang an schwierig. Doch das muss nicht so bleiben. Ein Blick in die Zukunft anhand von vier Kartenbildern

von UWE RADA

Sankt Petersburg genügt sich selbst. Karten des Ostseeraums zeigen eine Metropole, die sich am Ende des Finnischen Meerbusens vor den anderen Ostseestädten versteckt. Womöglich ist sogar die Bezeichnung Ostseestadt übertrieben. Während Hafenstädte wie Helsinki oder Tallinn der See ihre Schokoladenseite zuwenden, verschanzt sich Russlands alte Hauptstadt hinter der vorgelagerten Wassiljewski-Insel.

Karte 1: militärisch-historisch

Wer auf die Ostseekarte schaut, sieht auch die Stadtgründung von 1703 in einem anderen Licht. Zar Peter I. wollte Russland mit einer neuen Hauptstadt an der Newamündung in Richtung Westen öffnen. Tatsächlich hielt er sich dabei aber alle Rückzugsmöglichkeiten offen. Sankt Petersburg und die Ostsee, das war und ist die Geschichte einer Beziehung voller Widersprüche.

Peter schien um die Ambivalenzen gewusst zu haben. Seine Sommerresidenz ließ er südwestlich der neuen Hauptstadt, in Peterhof, anlegen: prachtvoll, elegant – und dem Meere zugewandt. Von der Großen Kaskade vor dem "russischen Versailles" führt ein kleiner Kanal geradewegs zur Ostsee. Heute befindet sich dort ein Anleger, von dem die Tragflächenboote Richtung Eremitage ablegen. Die Planungen für Peterhof hatten 1714 begonnen, zwei Jahre nachdem Sankt Petersburg offiziell Hauptstadt geworden war. Zu der Zeit war der Große Nordische Krieg bereits entschieden. In der Schlacht von Poltawa hatte Russland Schweden, den großen Konkurrenten im Ostseeraum, entscheidend geschlagen. Russland war auf dem Weg, die Hegemonialmacht der östlichen Ostsee zu werden.

Sankt Petersburg hingegen wurde mitten im Krieg gegründet – an einer Stelle, an der sich zuvor die schwedische Festung Nyenschanz befunden hatte. Das "Fenster zum Westen", wie es Alexandr Puschkin nannte, war also nicht absichtlich geöffnet worden. Vielmehr ging der Stadtgründung die Eroberung der Schwedenfestung am 1. Mai 1703 voraus. Unweit der Nyenschanz ließ der Zar den Grundstein für die Peter-und-Paul-Festung legen. Anders als es die Legende will, war da von einer neuen Hauptstadt noch keine Rede. Die Erweiterung der Peter-und-Paul-Festung zur Stadt erfolgte erst drei Jahre später. So ist die Gründung Sankt Petersburgs von einem Mythos umgeben, nachzulesen im Poem "Der eherne Reiter", in dem Puschkin das große Werk besang, eine "Hauptstadt aus dem Nichts" zu schaffen.

Karte 2: baltisch-strategisch

Legt man die Ostseekarte beiseite und schaut stattdessen auf ein nächtliches Satellitenbild, ergibt sich ein ganz anderer Eindruck. Im Wechsel von tiefem Schwarz und vereinzelten Lichtpunkten versteckt sich Sankt Petersburg keineswegs vor der Ostsee. Vielmehr scheint es, als wären alles Dunkel und die paar Lichter auf jenen hellen Schein ausgerichtet, der am Ende des Finnischen Meerbusens den ganzen Ostseeraum überstrahlt. Nicht mehr die See steht in dieser Vogelperspektive im Mittelpunkt, sondern ihre mit Abstand größte Stadt.

Bis es dazu kommen konnte, hat es ein Jahrhundert gedauert. Zwar konnte Peter I. ein Jahr nach der Schlacht bei Poltawa das ehrwürdige Reval, wie Tallinn damals hieß, erobern. Mit Helsinki freilich hatte er seine Mühen. Endgültig erobert wurde die Stadt erst 1810 von Zar Alexander I. Der machte zwei Jahre später aus dem kleinen Provinznest (anstelle von Turku) die Hauptstadt des nun zu Russland gehörenden Großfürstentums Finnland. Jetzt herrschte das Zarenreich erstmals über den gesamten Finnischen Meerbusen und damit die östliche Ostsee.

Zu einem Städtedreieck wuchsen Sankt Petersburg, Reval und Helsinki allerdings nicht zusammen. Dafür waren die Städte viel zu unterschiedlich. Die neue finnische Hauptstadt Helsinki stand erst am Anfang ihrer Entwicklung. 1812 zählte sie 4.000 Einwohner. Reval, von den Dänen gegründet und während der Zeit des Deutschen Ordens der Hanse beigetreten, war hingegen eine der wichtigsten Handelsstädte an der Ostsee und wirtschaftlich gut vernetzt. Anfang des 19. Jahrhundert zählte es 15.000 Einwohner. Sankt Petersburg schließlich, das für den Ausbau Helsinkis Pate stand, war zu dieser Zeit bereits eine Metropole. Als 1808 Preußens König Friedrich Wilhelm III. die russische Hauptstadt besuchte, hatte die Stadt mehr als 200.000 Einwohner – und überstieg alle Vorstellungen des preußischen Königspaares. "Es regnete Diamanten", notierte die Königin Luise. "Die Pracht jeder Art übersteigt alle Begriffe. Was es hier an Silberzeug, Bronzen, Spiegeln, Kristallen, Gemälden und Marmorstatuen gibt, ist enorm."

So wurde die einzige Metropole der Ostsee schon im 19. Jahrhundert zum wirtschaftlichen Zentrum im Nordosten Europas – und zu einer Art Staubsauger des Ostseehandels. "Sankt Petersburg wurde bald nach seiner Gründung zum unersättlichen Schlund für Luxusimporte", schreibt Christoph Neidhardt in seinem Ostsee-Buch "Das Meer in unserer Mitte": "Auf den Tischen des russischen Adels fehlte es vom französischen Champagner über die Orangen aus Italien bis zur frischen Ananas an nichts. Derweil versorgten im 19. Jahrhundert die finnischen, ingermanländischen und estnischen Bauern aus der Umgebung die Stadt mit Fisch, Fleisch und frischer Butter, Pilzen und Beeren. (…) Am Westufer des Baltischen Meeres gab es keine vergleichbare Stadt."

Karte 3: postsowjetisch-ökonomisch

Eine vergleichbare Stadt an der Ostsee gibt es heute zwar immer noch nicht. Doch vom Ostseehandel ist die nördlichste Millionenstadt der Erde nach dem Ende der Sowjetunion teilweise immer noch abgeschnitten. Das verdeutlicht ein Blick auf die dritte Karte, in der die Handelsbilanzen der baltischen Region eingezeichnet sind. Rund 60 Prozent ihres Außenhandels wickeln Estland, Lettland und Litauen mit den anderen EU-Staaten ab, die an der Ostsee liegen. In Russland hingegen beträgt der Anteil des Ostseehandels nur ein Fünftel des Handelsvolumens. Das gleiche gilt für die Petersburger Wirtschaft. Größte Exportländer waren 2008 die Niederlande (25 Prozent), gefolgt von Italien (10,3 Prozent) und der Slowakei (8,4 Prozent). Das hat vor allem damit zu tun, dass der Export von Öl nach wie vor 45 Prozent der gesamten Ausfuhren ausmacht. Bei den Importen nehmen Maschinen und Fahrzeuge mit 41 Prozent den größten Anteil an, gefolgt von Nahrungsmitteln mit 25 Prozent.

Mag Sankt Petersburg auch den größten Hafen der Ostsee haben. Wirtschaftlich ist es eher international als regional vernetzt. Darüber hinaus erwächst ihm mit Kaliningrad/Baltijsk eine innerrussische Ostseekonkurrenz. Zwar lag das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) in Sankt Petersburg 2009 mit 8,7 Prozent über dem russischen Durchschnitt von 5,6 Prozent. Überholt wurde es freilich von der rasanten Entwicklung im Kaliningrader Gebiet. Hier wuchs das BIP um sage und schreibe 24,7 Prozent.

Freilich sind es nicht alleine die Wirtschaftsdaten, die die Beziehungen Sankt Petersburgs zur Ostsee und ihren Städten beschreiben. Betrachten wir statt der Wirtschaftsgrafiken die Reiserouten der Ostseeschifffahrt, ergibt sich wiederum ein anderes Bild. Keine Kreuzfahrt, auf der Sankt Petersburg, das Highlight jeder Ostseefahrt, fehlen darf. Nicht nur Touristen und Reeder haben sich der Stadt an der Newa angenähert, sondern auch die Sankt Petersburger ihren Nachbarn im Westen. Seit einiger Zeit können Kreuzfahrttouristen in Sankt Petersburg sogar ohne Visum von Land gehen.

Wie wichtig das Netz von Fährverbindungen und Touristenrouten für die Wahrnehmung von Städteverbindungen in den "mental maps" sein können, haben Estlands Hauptstadt Tallinn und die 80 Kilometer entfernte finnische Kapitale Helsinki vorgemacht. Seit dem Fall des Eisernen Vorhangs haben sich die Verbindungen über den Finnischen Meerbusen enorm beschleunigt. Beinahe stündlich legen in beiden Städten die Fähren ab, so dass manche bereits von einer grenzüberschreitenden Metropolenregion sprechen – Tallsinki.

Karte 4: perspektivisch-europäisch

Wird man, wenn man in einigen Jahren oder Jahrzehnten eine neue, diesmal vierte Karte zur Hand nimmt, nicht mehr nur von Tallsinki, sondern sogar von Tallsinkburg sprechen? Dagegen spricht die politische Großwetterlage. Zwar haben sich seit dem Ende des Kalten Krieges die EU und Russland Schritt für Schritt angenähert. Doch die Angst der ehemaligen Sowjetrepubliken und neuen EU Staaten Estland, Lettland und Litauen vor dem übermächtigen Nachbarn im Osten bleibt. Auf einer politischen Landkarte also wird man Tallsinkburg kaum finden.

Wohl aber auf einer Karte der neuen europäischen Regionen. Schon 1999 hatte die Europäische Union auf Initiative Finnlands die so genannte "nördliche Dimension" beschlossen. Deren Ziel ist, die regionale, kulturelle und wirtschaftliche Zusammenarbeit zu verbessern. In Sankt Petersburg zumindest rannte Finnland damit offene Türen ein. Nach dem Kaliningrader Gebiet gehört die baltische Metropole zu den Gebieten der Russischen Föderation, die sich am stärksten in Richtung Westen orientieren. Das wird Moskau nicht gefallen, aber man wird es von dort aus nicht verhindern können. Fällt dereinst auch noch die Visapflicht für russische Staatsbürger in der Europäischen Union und für EU-Bürger in Russland, werden sich etliche Gewichte im Ostseeraum mehr noch als bisher in Richtung Osten verschieben.

Nicht mehr Russlands Fenster zum Westen wäre Sankt Petersburg dann. Es wäre vielmehr ein lebendiger Teil von Europa. Sich selbst genügen sollte es dann aber nicht mehr.


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