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DRUCKVERSION Warten auf Mr. Bloomfield

In Lodz ist Amerika noch immer eine Metapher der Hoffnung, der Traum vom gelobten Land

Von UWE RADA

Aleja Pilsudzkiego

Die Aleja Marszala Jozefa Pilsudzkiego ist eine sozialistische Straße. Heute sagt man das nicht mehr mit Stolz, sondern mit jenem Bedauern, das sich gleichsam aus der Wiederentdeckung der Geschichte des Ortes und der ihres Verlustes ergibt. Als ob ein Orkan eine Schneise in das Weichbild der Stadt gelegt hätte, markiert die Pilsudzkiego die große Zäsur, mit der auch in Lodz die dicht bebaute Mietskasernenstadt, die Fabrikstadt gelichtet werden sollte im eigentlichen Sinne des Wortes. Man mag die Dimension dieser Zäsur erahnen, wenn man weiß, dass die Straßenbreite der streng nach geometrischen Rastern angelegten Gründerzeitstadt oft nicht mehr als 15 Meter betrug. Die Aleja Marszala Jozefa Pilsudzkiego hingegen bringt es auf eine Breite von hundert Metern. Heute, da der Fortschritt nicht mehr in Straßenbreiten und Geschosshöhen gemessen wird, sondern in den Bulletins der Wirtschaftsforscher, ist der Verlust an städtischer Kohärenz umso spürbarer. Die Aleja verbindet nicht, sie trennt. Nicht einmal als Verteiler des rasant gewachsenen Autoverkehrs funktioniert sie, sondern als Durchgangskorridor zwischen Ost und West. Und irgendwo, im Zwischenraum, liegt Lodz. Selbst die vier Kilometer lange Piotrkowska, der ganze Stolz der Lodzer, wird von diesem Korridor zerschnitten. Wer von der als Fußgängerzone ausgewiesenen nördlichen Piotrkowska in den weiter südlich gelegenen industriellen Teil der Lodzer Magistrale möchte, stößt an die Grenze Aleja Marszala Jozefa Pilsudzkiego. Der einzige Weg auf die andere Seite führt durch einen Fußgängertunnel.

Die Aleja Marszala Jozefa Pilsudzkiego ist eine amerikanische Straße. Vor dem Hotel Ibis werden die Gehwege neu gepflastert, der neue Glanz der Fassaden soll jedem, der sie hören will, die Geschichte von einer besseren Zukunft erzählen. Es ist der Traum vom gelobten Land auch im 21. Jahrhundert. Schon beim Abriss der einstöckigen Handwerkerhäuser und dem Bau der 20-geschossigen Hochhäuser zu beiden Seiten der Allee hatte man, wenn auch etwas sarkastisch, vom Lodzer Manhattan gesprochen. Amerika, das war in Polen schon immer eine Metapher der Hoffnung. In Joseph Roths Roman "Hotel Savoy" hat diese Hoffnung sogar einen Namen: Mr. Bloomfield aus New York. Seiner Rückkehr fiebert alles in Lodz entgegen. Sie ist die letzte Rettung für eine sterbende Stadt, deren Bildern Roth in der Zwischenkriegszeit das der Regenstadt hinzufügte: "Es war ein dauerhafter Regen, er hing über der Welt wie ein ewiger Vorhang. Die Menschen stießen mit den Regenschirmen zusammen und trugen hochaufgeschlagene Mantelkragen. Die Stadt bekommt an solchen Regentagen erst ihr wirkliches Gesicht. Der Regen ist ihre Uniform. Es ist eine Stadt des Regens und der Trostlosigkeit." Mr. Bloomfield kam tatsächlich, allerdings nur kurz, um das Grab seines Vaters zu besuchen. Doch die Hoffnung ist geblieben. Vorerst freilich zeigt sich Amerika an der Aleja Marszala Jozefa Pilsudzkiego weniger in seinem ungebremsten Optimismus als in seinen Brüchen, seinen scharfen Kanten, seinen unsichtbaren Grenzziehungen. Neben dem Hotel Ibis stehen die Erdgeschosszonen leer. Die Botschaft ist deutlich: Ein Traum muss nicht in Erfüllung gehen, schon gar nicht für jeden.

Die Aleja Marszala Jozefa Pilsudzkiego ist eine polnische Straße. Im Fußgängertunnel an der Kreuzung zur Piotrkowska haben Kleinhändler ihre wackligen Tische aufgestellt. Oft haben sie nicht mehr zu verkaufen als ein Dutzend Schnürsenkel, etwas Obst und Gemüse, Habseligkeiten. Es herrscht eine eigentümliche Stille hier unten, nur unterbrochen vom Hall der Schritte der Passanten. Stumm, als hätten sie die Hoffnung längst aufgegeben, warten die Händler darauf, dass einer stehen bleibt, sich umblickt, näher tritt. Meistens vergebens. Es ist eine der Befremdlichkeiten der Überlebensökonomie, wie wenig ein Mensch tatsächlich zum Überleben braucht.

Auch oben, an den Rändern Amerikas, stehen die Händler. Die, die es bereits zu etwas gebracht haben, haben einen Kiosk gepachtet und verkaufen "Chemia", Zigaretten, vor allem aber Lose, in allen Variationen, immer in der Hoffnung auf ein bisschen Gewinn. Zumindest das haben die Käufer an den Kiosken mit den Akteuren an den Aktienbörsen gemeinsam. Diejenigen Händler, die bereits in Geschäften sesshaft geworden sind, haben ihre Schaufenster vergittert. Selbst das Kaufhaus Central, in früheren Zeiten das Schaufenster der Stadt, versteckt seine Waren vor den Blicken der Laufkundschaft. In der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, wie sie Transformationsstädten zu eigen ist, präsentieren sich an der Aleja Marszala Jozefa Pilsudzkiego in ihrer ganzen Armseligkeit die verschiedenen Entwicklungsstadien des Handels, vom Basar und offenen Markt über den Kiosk bis zum Kaufhaus. Das Provisorium, im Westen längst Sinnbild der Existenzlosigkeit, ist an diesem Ort das Bild der Existenz schlechthin und hat sich, im Dunstkreis der Benzinschwaden vorbeirauschender Autos, die sozialistische Straße zurückerobert. Und Amerika ist noch weit, wie immer.

Gelobtes Land, böse Stadt Die Stadt glich einem mächtigen Strudel, in dem Menschen, Fabriken, Waren und Leidenschaften wirbelten, Millionen und Elend, Wollust und ewiger Hunger. Alles wirbelte in wahnsinniger Eile, begleitet von dem Gebrüll der Maschinen, der Begierde, des Hungers und des Hasses; begleitet von dem Kampfgebrüll alle gegen alle und alles." So beschreibt Wladyslaw Reymont in seinem 1899 erschienen Roman "Das gelobte Land" die Fabrikstadt Lodz, dieses "Manchester des Ostens", das seinen Aufstieg allein den polnischen Teilungen und seiner politischen Randlage verdankte. Nach der "vierten" polnischen Teilung 1814 lag das Lodzer Gebiet plötzlich zwischen dem russisch besetzten Kongresspolen und dem preußisch okkupierten Großpolen und Schlesien. Mit Rückendeckung des russischen Zaren und auf Initiative des Schriftstellers und Staatsmannes Rajmund Rembielinski begann in Lodz der planmäßige Ausbau zur Industriestadt. Binnen weniger Jahrzehnte lockte die in Aussicht gestellte Steuerfreiheit Glücksritter und Spekulanten, aber auch Arbeitssuchende des ganzen Kontinents. Lodz, bis dato auf der Landkarte europäischer Städte ein weißer Fleck, wurde plötzlich zum Sinnbild der kapitalistischen Fabrikstadt. Als "gelobtes Land" freilich mochte Reymont die Stadt, an der er kein gutes Haar ließ, nur für die verstanden wissen, die es in Lodz tatsächlich geschafft haben: die Geyers, Scheiblers, Poznanskis, jene Prototypen des frühkapitalistischen Textilfabrikanten, die er die "Lodzermenschen" genannt hat und die sich vor allem durch Skrupellosigkeit ausgezeichnet haben. Die, die ihren Reichtum erwirtschaftet haben, polnische, jüdische und deutsche Arbeiter, profitierten nicht vom Aufstieg Lodz zur Industriemetropole. In den Maschinenhallen und Hinterhöfen wuchsen das Elend und der Hass und mündeten schließlich in der Revolution von 1905.

Es ist erstaunlich viel geschrieben worden über Lodz, die Stadt ohne Geschichte, diesem vielleicht einzigen Mythos, dem die Stadt tatsächlich standhält. Bei Reymont noch "gelobtes Land", ist Lodz bei Joseph Roth schon längst dem Untergang geweiht. Alfred Döblin wiederum macht sich in seiner "Reise in Polen" ob der Hässlichkeit der Stadt lustig. Kein Autor freilich ging mit Lodz so sehr ins Gericht wie Zygmunt Bartkiewicz. Der schrieb zwei Jahre nach der Niederschlagung der Revolution von 1905: "Es gibt in Polen eine Stadt, die so ist: böse. Und verlogen noch dazu, denn sie ist wie in einen Trauerschleier eingehüllt und macht sich doch über den Tod lustig. Tausende Dächer hat sie aufgerichtet, hoch in den Himmel, aber unten wälzt sie sich im Blut. Aus den schlaffen Blüten der Baumwolle schöpft sie eine unbeugsame Kraft, und von totem Gold lebt sie. Ihre Verdienste verdankt sie Verbrechen."

Es ist fast so, als hätte Bartkiewicz in seiner "bösen Stadt" die Zukunft von Lodz vorausgesehen, die Besetzung durch die Nazis, die Umbenennung in "Litzmannstadt", das in den Altstadtquartieren von Baluty und Radogoszcz errichtete Ghetto, in dem nur 800 der 240 000 Lodzer Juden überlebten. Über den Tod lustig machten sich die Deutschen selbst dann noch, als die Rote Armee vor den Toren der Stadt stand. Einen Tag vor der Befreiung brannten sie eine als Gefängnis genutzte Fabrik in Radogoszcz nieder. 1 500 Menschen verbrannten bei
lebendigem Leibe.

Der Markt von Tuszyn

Es gibt eine Legende, die geht nach dem Lodzer Journalisten Krzysztof Rajczyk so: Gleich nach dem Ende des Kommunismus haben Emissäre eines nicht näher genannten internationalen Textilkonsortiums Lodz besucht, um dort das "Textilzentrum der Welt" zu gründen. Zu diesem Zwecke sollten allerdings einige Stadtviertel abgerissen werden, um dort moderne Bürohochhäuser zu errichten. Dem Vernehmen nach interessierte sich in der Lodzer Stadtverwaltung aber niemand für das Angebot, obwohl die Vertreter des internationalen Großkapitals über einen Fonds von mehreren Milliarden Dollars verfügten. So kam es, dass die Emissäre ihre Suche nach dem Welttextilzentrum woanders fortsetzten. Wo es entstanden ist? Niemand, so will es die Legende, weiß es. Es ist, als setze sich in dieser Anekdote die Hoffnung auf Joseph Roths Mr. Bloomfield und die Enttäuschung über dessen Desinteresse fort: nur, dass diesmal nicht Mr. Bloomfield schuld ist, sondern die Ignoranz der Stadtoberen, die die Zeichen der Zukunft nicht zu deuten wussten. Als hätte Lodz tatsächlich eine Zukunft gehabt, als hätte man sie nur greifen müssen. Die Wirklichkeit ist prosaischer. "Auf dem Teppich bleiben" will etwa der Lodzer Stadtpräsident Tadeusz Matusiak, wenn es um eine Prognose für die Zukunft seiner Stadt im dritten Jahrtausend geht. Er nennt in erster Linie das Wissenschaftszentrum Lodz und erst danach seine wirtschaftliche Bedeutung als Industriestandort. Und auch dort, so Matusiak, komme es vor allem auf Fertigung im hochwertigen Preissegment an. Ein Blick in die Schaufenster der Piotrkowska scheint dem Stadtpräsidenten Recht zu geben. Die Geschäfte sind herausgeputzt, die Auslagen voll. So nobel sind manchmal nicht einmal die Geschäfte in Berlin. Und dennoch: Die Szenerie hat, angesichts des Kontrastes von Hinterhof und Haute Couture, etwas Irritierendes. Unweigerlich kommt der Betrachter ins Grübeln. Warum sind so wenig Kunden in den Geschäften? Wer kauft hier, und warum? Wie kommen die Betreiber über die Runden? Erst nach einigem Nachfragen wird man begreifen, dass die hochwertigen Anzüge, Abendkleider, Mäntel und Röcke in den Auslagen der Boutiquen nichts anderes sind als ein Showroom, dessen stoffliche Basis sich woanders befindet: in den Sweat Shops der Hinterhöfe und draußen, vor den Toren der Stadt, dem Markt von Tuszyn.

Dreißig Kilometer Luftlinie von der Piotrkowska entfernt hat der Unternehmer und Mäzen Antoni Ptak das neue Epizentrum der Lodzer Textilwirtschaft geschaffen. Es ist ein gelungenes Beispiel für Industriekonversion im Zeichen des Provisoriums. Rund um alte, aus der Ukraine importierte Flugzeughangars finden sich Tag für Tag Tausende ein, um sich im "Ptak-Zentrum" mit billigen Klamotten einzudecken. Und an den Wochenenden rollen die Busse an: aus der Ukraine, aus Russland, aus Rumänien, dem Baltikum, der Tschechischen Republik. Wer mit Textilien handelt, braucht keine Stadt und keine Piotrkowska, sondern reichlich Platz und einen Autobahnanschluss. Und der Markt von Tuszyn boomt. Viertausend Verkaufsboxen hat Antoni Ptak bereits aufstellen lassen, die Grundstückspreise in der Gegend explodieren. Ptak sagt: "Ich bin der Vermittler des neuen Lodzermenschen, der neuen Ökonomie von Lodz. Ich bewundere den Unternehmungsgeist der Lodzer, die heute hier leben." In einem hat der 1995 zum Unternehmer des Jahres in Polen gekürte Ptak sicher Recht. Ohne die sprichwörtlichen Eigenschaften der "Lodzermenschen" werden die etwa 90 000 Kleinbetriebe und Klitschen, die seit dem Ende des Sozialismus gegründet wurden, in der "neuen Ökonomie von Lodz" nicht überleben. Nun freilich gilt das Attribut des "Lodzermenschen" nicht mehr den wenigen Fabrikbesitzern, deren verschwenderisch gebaute Paläste noch an die Skrupellosigkeit des "gelobten Landes" erinnern. Es gilt der Mehrheit der neuen Selbstständigen, dieser Glücksritter des Kreditmarktes, die es in Ermangelung an Alternativen nun auf eigene Faust versuchen. Auf dem Markt von Tuszyn, neben dem "Jahrmarkt Europa" im Stadion von Praga in Warschau einer der größten Handelsplätze Polens, kann man beobachten, wie es um die Wirtschaftskraft im europäischen Beitrittsraum tatsächlich bestellt ist: Polnische Händler verkaufen Billig- und andere Textilien an russische, ukrainische oder baltische Großhändler, die wiederum die alten Handelswege aus der Zeit vor hundert Jahren wieder beleben. Nur ein kleiner Teil der Produktion findet seinen Weg in die Boutiquen von Hamburg oder München.

Für die Akteure des neuen Kapitalismus ist Lodz plötzlich beides: gelobtes Land und böse Stadt. Selbst das Wort von der Schattenwirtschaft bekommt draußen, in den Hangars und Boxen von Tuszyn, eine neue Bedeutung. Hier, im Schatten der Stadt, an den Wegkreuzungen des neuen, transnationalen "Ameisenhandels" (Karl Schlögel) werden die Umsätze gemacht. Auf der Piotrkowska, in den hell erleuchteten Schaufenstern, ist alles bloß Ausstellung, Kulisse.

Stadt im Abseits

Lodz, die zweitgrößte polnische Stadt, liegt im Abseits. Dass sie nicht an das europäische Eisenbahnnetz angeschlossen wurde, geht auf die russische Regierung zurück. Die sorgte Mitte des 19. Jahrhunderts dafür, dass ihr westliches Herrschaftsgebiet weitestgehend unzugänglich blieb. Bis heute hat sich daran nichts geändert. Wer mit der Bahn nach Lodz fährt, muss aufs Nebengleis umsteigen, zum Beispiel in der westlich von Warschau gelegenen Kleinstadt Kutno. Es hat sich so das böse Wort ergeben, Lodz liege bei Kutno.

Eigentlich liegt Lodz aber bei Warschau. Zur Fabrikstadt wurde die alte Bauernsiedlung, die 1820 noch 800 Einwohner und 106 Holzhäuser zählte, weil es dort im Gegensatz zu Warschau noch genügend Fläche und Wasser zur Ansiedlung der Fabriken gab. Doch Lodz, die "Stadt der Schornsteine", ist mehr als das Ergebnis frühkapitalistischen Standortdenkens. Es war immer auch Stadt gewordenes Provisorium. Nach der Zerstörung Warschaus durch die Deutschen und der Befreiung vom Faschismus wurde Lodz kurzfristig zum polnischen Regierungssitz: bis die Stadt mit dem Aufbau Warschaus ihre Schuldigkeit getan hat. Nur die Filmhochschule, ursprünglich auch als Ausweichstandort gedacht, blieb Lodz erhalten. Lodz, was im Polnischen so viel wie Boot bedeutet, ruderte immer irgendwo dazwischen, räumlich wie semantisch.

Das Provisorium als Dauerzustand: Im polnischen Wirtschaftswunderland ist Lodz nicht angekommen. Während andere Städte auf Arbeitslosenraten von unter fünf Prozent verweisen, liegt sie in Lodz, trotz des enormen Gründerbooms und des Marktes von Tuszyn, bei 14 Prozent. Während Städte wie Gdansk/Danzig, Wroclaw/Breslau und Poznan/Posen sich längst eingeklinkt haben in die europäischen Wirtschaftsräume und Wachstumsmärkte, produziert Lodz entweder für sich selbst oder die Märkte im Hinterhof Europas. Während die Wirtschaftspolitiker konkurrierender Stadtregionen händeringend auf Dienstleistungsökonomie setzen, ist Lodz noch immer ein Standort der Textilproduktion. In Ksiezy Mlyn, einem etwas abseits gelegenen Industrieareal, das im 19. Jahrhundert von Karl Scheibler gegründet wurde, arbeiten noch heute Tausende in den Fabriken von Uniontex, leben ihre Familien noch immer in den kaum mehr als 20 Quadratmeter großen Werkswohnungen. Nur das Gebäude des ehemaligen Werkschutzes wurde inzwischen umgenutzt. Einige Werbeagenturen künden nun, inmitten einer dem Verfall trotzenden Industrielandschaft, vom neuen Zeitalter der Informationsgesellschaft.

Selbst die Flucht in eine bessere Zukunft gerät in Lodz an ihre räumlichen Grenzen. Die beiden Bahnhöfe der Stadt, Lodz Kaliska und Lodz Fabryczna gleichen eher mittleren Provinzbahnhöfen, und den nächsten Flughafen findet man, wie könnte es anders sein, in Warschau. Nur Autobahnen gibt es genügend in Lodz. Die, die sich auf ihnen der Stadt nähern, kommen mit leeren Pritschenwagen und prallen Portmonees. Auf der Gegenspur begegnen ihnen immer öfter die Möbelwagen der Stadtflüchtlinge. In Lodz, der Stadt im Abseits, haben die Absetzbewegungen längst begonnen. Wie aber müssen sich 900 000 Bewohner einer Stadt fühlen, die in einem Zwischenraum existiert, nicht mehr gebraucht wird, aber auch noch nicht Museum ist, die den Sprung in die Zukunft verpasst hat, zumindest den in eine bessere? Wie lebt es sich am Rande der Hoffnung, welche Identitäten bringt ein Provisorium hervor?

Der Kiosk

Zu einem der Lodzer Mythen gehört neben dem "gelobten Land", der "bösen Stadt" und dem Schmelztigel der Nationen auch das Attribut einer "Stadt der Gegensätze". Es war das unmittelbare Nebeneinander von Fabrik und Fabrikantenpalast, der bemühte Prunk der Häuser an der Piotrkowska und dem unübersehbaren Elend ihrer Hinterhöfe, das diesen Mythos nährte. Paläste, Fabriken und die Piotrkowska gibt es auch heute noch, doch die Gegensätze erweisen sich bei näherem Hinsehen als Chimäre. Mag auch die Piotrkowska wieder in neuem Glanz erstrahlen, zum Gradmesser des Kontrasts taugt sie heute so wenig wie sie es damals vermochte. Nicht das Nebeneinander von Palast und Hinterhof prägt die Stadt, sondern die unbestrittene Vorherrschaft des Provisoriums, dem die Piotrkowska nurmehr unwirkliche Kulisse ist. Dort, wo das wirkliche Leben spielt, in der Aleja Kosciuszki oder der Ulica Kilinskiego zum Beispiel, hat man wegen der Straßenverbreiterungen und dem Bau der Straßenbahntrassen die Vorderhäuser einfach weggerodet. Vielleicht ist das ja das eigentliche Bild von Lodz: aufgerissene, aufgelassene Höfe, obwohl auf diese Stadt keine Bombe fiel, ein ins Ocker gehendes Grau, Regen, wie ihn Joseph Roth im "Hotel Savoy" beschrieb. Wenn die Straßenbahnräder in den Weichen gegen das Metall der Schienen kämpfen, halten die Passanten ihre Regenschirme nach unten, um sich vor dem aus den Schienen herausspritzenden Regenwasser zu schützen. Und überall dazwischen: eine nicht totzukriegende, widerstandsfähige Form städtischer Architektur. Eine Stadtlandschaft des Provisoriums. Wie Pilze schießen sie aus dem Boden, die Lücken und Nischen der Stadt sind ihnen kein Hindernis, sondern der Boden, auf dem sie gedeihen. Die Kioske, diese Zwischenform von Basar und niedergelassenem Einzelhandel, haben sich wie ein engmaschiges Netz über den Stadtkörper gelegt und definieren ihn neu. Die Architektur des Kioskes ist der Behälter der Transformationsökonomie. In ihrer Gleichförmigkeit ist sie dem Großteil ihrer Nutzer Reminiszenz an die soziale Gleichheitserfahrung der Vergangenheit und die ökonomische der Gegenwart. Und sie ist eine Absage an die Verspieltheit der urbanen Kultur des "gelobten Landes", damals wie heute. Nicht um Schönheit geht es hier, sondern um schiere Funktionalität. Was zuweilen an einen Strandkorb erinnert, ist in Wirklichkeit ein Vordach mit zweierlei Funktionen. Einmal soll es dem Kunden Schutz vor Regen bieten und zum andern nach Feierabend zur Schließzeit heruntergeklappt werden können. Andere Kioske lassen sich nicht zuklappen, sondern haben, wie die meisten Geschäfte in Lodz, vergitterte Scheiben. Auch die tief liegenden, kleinen Verkaufsschlitze dienen der Sicherheit. Es bedroht sich einfach schlecht mit
gebeugter Schulter und geneigtem Haupt. Und wenn, dann wäre nicht allzu viel
zu holen.

Der Kiosk in Lodz ist die bauliche Form des Provisoriums, die architektonische Chiffre einer in eine ungewisse Zukunft entlassenen Stadt. Hergestellt aus Plaste und nur mit ein paar Schrauben auf die Gehwege montiert, sind die kaum mehr als zwei Quadratmeter Fläche großen Kioske die Lodzer Variante eines neuen, flexiblen und mobilen Kapitalismus. Wie viele dieser Ein-Personen-Handelsunternehmen zu den 90 000 neu gegründeten Firmen in Lodz zählen, weiß nicht einmal die Stadtverwaltung. Immerhin aber sollen 82 000 Firmen des neuen Gründerbooms aus weniger als fünf Beschäftigten bestehen. Dass die Kioske nicht nur den Arbeitsmarkt entlasten, sondern auch eine wirtschaftliche Zukunft haben, ist nicht einmal mehr unter westlichen Analysten umstritten. So geht der Lebensmittelbranchendienst AC Nielsen davon aus, dass "Kioske ein wichtiges Merkmal in Wachstumsmärkten" seien, vor allem in Polen, dem Land mit der größten Dichte an Kiosken. 1996 etwa machten die polnischen Kioske 15 Prozent des gesamten Food Umsatzes und sogar 18 Prozent des Umsatzes mit Gesundheits- und Körperpflege. Fazit des Branchenkenners: Kioske, Basare und offene Märkte werden auch mittelfristig "eine zentrale Stellung für die meisten Verbraucher einnehmen, vor allem in Polen, wo sie den Großteil des Bedarfs der ärmeren Bevölkerung abdecken". Der Kiosk, das ist das mobile Kaufhaus der Immobilen.

Entlang der Aleja Marszala Jozefa Pilsudzkiego reihen sich die Kioske wie Perlen an einer Kette, an den großen Kreuzungen im suburbanen Nirgendwo haben sie sich in ungeordnetem Wachstum zu Clustern versammelt. In die Zwischenräume und aufgerissenen Höfe entlang der Aleja Kosciuszki und der Ulica Kilinskiego haben sie sich hineingezwängt, haben sich an den Bahnhöfen Kaliska und Fabryczna festgesetzt, vor normalen Geschäften werden sie geduldet, ebenso wie vor den Palästen der ehemaligen Fabrikanten, ob sie nun Karl Scheibler oder Izrael Poznanski heißen.

Namentlich an diesen Orten wird der Kiosk zur Metapher auf der großen Suchbewegung zwischen der Hoffnung Amerika und der Realität Osteuropa. Ursprünglich bezeichnete das türkische Wort Kiosk nichts anderes als einen Anbau an den orientalischen Palästen. In Lodz, diesem zum Dauerzustand gewordenen Provisorium, füllen die Kioske nunmehr die Lücken, die das alte gelobte Land zurückgelassen hat und das neue noch nicht bebaut hat.

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