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DRUCKVERSION Vogelparadies mit Vergangenheit

Nach der Oder wollte Friedrich II. auch die Warthe trockenlegen und besiedeln. Das ist ihm aber nur zur Hälfte gelungen. Bis heute hat sich der größte Nebenfluss der Oder einen Teil seiner Wildnis bewahrt

von UWE RADA

Das Oderbruch ist den Berlinern längst bekannt, das Warthebruch aber wartet noch darauf, entdeckt zu werden. Dabei weisen beide Landschaften erstaunliche Ähnlichkeiten auf. Trockenlegt wurden die Sumpfniederungen der Mark Brandenburg im 18. Jahrhundert unter dem Preußenkönig Friedrich II. Das Oderbruch machte Friedrich durch die Begradigung der Oder in den Jahren 1747 bis 1753 urbar.

Das Bruch des Oderzuflusses Warthe wurde nach dem Siebenjährigen Krieg durch den Bau von Gräben und Kanälen entwässert, von 1767 bis 1775. In Angriff genommen wurden beide Großprojekte nicht nur wegen des Hochwasserschutzes, sondern vor allem, um Land zu schaffen für Siedler und Kolonisten. Bis heute wird die Bemerkung von Friedrich überliefert, mit der Trockenlegung des Oderbruchs habe er eine "Provinz im Frieden erobert". Für das Warthebruch gilt dies nicht minder.

Doch damit enden die Gemeinsamkeiten. Während in den Neudörfern zwischen alter und neuer Oder vor allem Franzosen, Böhmen und Österreicher siedelten, ließen sich in den 152 Dörfern des Warthebruchs und des angrenzenden Netzebruchs polnische Kolonisten nieder. Mit seiner Siedlungspolitik wollte der Modernisierer Friedrich wohl abmildern, was er als Feldherr mit der ersten Teilung Polens 1772 zu verantworten hatte: die beginnende Konfliktgeschichte zwischen Deutschen und Polen östlich der Oder.

Wir sind also in der Neumark, jener historischen Landschaft Brandenburgs, die seit 1945 zu Polen gehört und seitdem Ziemia Lubuska heißt, Lebuser Land. Die Meliorationsgräben und Kanäle des Warthebruchs existieren noch immer. Davon kann man sich bei einem Fahrradausflug selbst überzeugen.

Und auch davon, was den zweiten Unterschied zwischen Oderund Warthebruch ausmacht. Gleich nach dem Grenzübertritt zwischen Küstrin-Kietz und Kostrzyn und beim Einbiegen auf die Landstraße 22, die südlich der Bruchlandschaft von Kostrzyn über Slonsk nach Gorzow führt, zeigt es sich: Dieser Teil der Wartheniederung ist keine trockengelegte Bruchlandschaft, sondern noch immer natürliches Überschwemmungsgebiet. Nicht zuletzt deshalb wurde das 8 000 Hektar große Areal im April 2001 als "Nationalpark Warthemündung" ausgewiesen — der jüngste Nationalpark Polens.

Den besten Blick auf das Überschwemmungsgebiet hat man in Chorzyno, keine fünf Kilometer hinter dem Abzweig nach Slonsk. Dort befindet sich nicht nur die Verwaltung des Nationalparks, sondern auch ein 15 Meter hoher Aussichtsturm. Und wirklich: Die Weite dieser zwölf Kilometer breiten Flussniederung ist beeindruckend. Sie reicht im Süden vom Sternberger Hochland bis zur neumärkischen Hochfläche im Norden. Die Warthe selbst teilt die Niederung noch einmal in die "Nordpolder", die wegen eines Hochwasserdeichs vor Überschwemmungen geschützt sind, und die "Schutzzone Slonsk", die einem, vom Turm aus betrachtet, buchstäblich zu Füßen liegt. Bis zu vier Meter schwankt der Wasserstand zwischen den Winter- und Sommermonaten. Manchmal, im April, reichen die Wassermassen bis an den Damm der Landesstraße 22 heran.

Dass dies ein Ausflug in die Einsamkeit werden würde, wussten wir schon in Berlin. Also haben wir Brote, Äpfel und Wasser in den Fahrradtaschen verstaut, Flickzeug natürlich auch. Nur das Fernglas haben wir vergessen. Wir bereuen es gleich mehrfach. Schließlich ist die Wartheniederung einer der größten Rastplätze für Zugvögel und darüber hinaus Heimat zahlreicher Greifvögel. Über 250 Vogelarten werden hier gezählt. Damit kann es das Warthebruch sogar mit dem "Nationalpark Unteres Odertal" aufnehmen.

Unser erstes Vogelerlebnis erwartet uns bei Jamno, dem ersten der Bruchdörfer, die sich östlich an das Überschwemmungsgebiet an schließen. Auf den gerade abgeernteten Feldern haben sich Hunderte von Kranichen niedergelassen. Kurz vor dem Beginn des Vogelzugs ist das Warthebruch der beste Ort, um noch einmal Reserven anzulegen. Andere Hundertschaften proben schon den Formationsflug. Naturschauspiele in fast menschenleerer Landschaft - den durchdringenden Ruf der Kraniche vergisst man so schnell nicht mehr.

Das gilt auch für die wechselvolle Geschichte von Slonsk, den Hauptort der südlich der Warthe gelegenen Landschaft. Von hier aus begannen im Mittelalter die Johanniter mit der Urbarmachung der Flussniederung. 1426 hatte der Orden die Stadt Sonnenburg, das Schloss und zehn umliegende Dörfer erworben. Nach der Trockenlegung unter Friedrich II. umfasste das Ordensamt der Johanniter darüber hinaus 37 Kolonien, sechs Vorwerke, sechs Wasser- und zwei Windmühlen.

Das im 16. Jahrhundert von Moritz von Nassau, dem bedeutendsten Ordensreformer, umgebaute Schloss kann man noch heute besichtigen - als Ruine. Anders als die Altstadt von Küstrin fiel das Johanniterschloss, der Hauptsitz des Ordens, allerdings nicht den letzten Kriegshandlungen 1945 zum Opfer, sondern einem verheerenden Brand im Jahre 1968. Bauarbeiter waren gerade dabei, das Gebäude zu renovieren, da brach das Feuer aus. Manchmal erzählen Ruinen eine andere Geschichte als die, die man hinter ihnen vermutet.

Mitten in der Stadt berichtet eine Informationstafel von den anderen Geschichten aus Sonnenburg. Dass der Johanniterorden seinen Hauptsitz hier bald wieder aufgegeben und nach Malta verlegt hatte, weswegen er auch Malteserorden hieß. Das "schwere Gefängnis" der Stadt, wie es in der etwas unbeholfenen Übersetzung heißt, wurde von den Nazis 1933 bis 1934 als eines der ersten Konzentrationslager genutzt wurde und später als Kriegsgefangenenlager. Zu den Opfern des Faschismus, derer im heutigen Slonsk mit einem Denkmal gedacht wird, gehört der Publizist und Nobelpreisträger Carl von Ossietzky.

Und natürlich ist da die Kirche, 1508 geweiht und nach einem verheerenden Brand 1815 von Karl Friedrich Schinkel neu errichtet. Der Turm mit seinen vier Spitzen ist noch immer eine Sehenswürdigkeit in der ehemaligen Neumark. Auch wenn die einst protestantischen Gemeinden des Johanniterordens längst katholisch geworden sind. Slonsk alleine wäre schon eine Reise wert, und tatsächlich parken einige Reisebusse vor der Kirche, die meisten von ihnen aus Deutschland. Doch für die meisten Touristen ist die Stadt vor allem ein Tor zum Warthebruch. Denn von Slonsk aus lassen sich die meisten Touren in die südliche Bruchlandschaft unternehmen. Der Naturlehrpfad "Auf der Vogelroute" führt von Slonsk über Przyborow ins Gelände; die Route zur Beobachtungshütte "hinter der zweiten Brücke", auf der sich ein grandioser Blick aus der Vogelschau bietet; die Besichtigung der Kläranlage in Przyborow, die wie viele andere technische Bauten in der Kulturlandschaft für die Entwässerung und die Abwasserreinigung sorgen.

Wir nehmen die vierte Route: entlang der Warthe bis zur Fähre in Klopotowo. Schließlich gibt es nicht nur in der Schutzzone Slonsk, sondern auch im Nordpolder des Nationalparks einiges zu entdecken. Schon auf dem Warthedeich ist die Fähre zu sehen, eine seilbetriebene Gierfähre aus den siebziger Jahren, die gerade einen Golf samt Fahrer über den Fluss setzt. Die Fähre ist also in Betrieb. Bei Hochwasser kann es sein, dass nichts mehr geht in Klopotowo. Wer dann auf die andere Seite der Warthe will, muss den Fluss entlang bis zur Brücke von Swierkocin fahren.

Heute ist kein Hochwasser, sondern "normaler Wasserstand", klärt uns der Fährmann auf und drückt uns das Rückgeld in die Hand. Zwei Personen und zwei Fahrräder kosten zwei Zloty. Die Ökonomie von Fähren in diesem Teil Europas ist und bleibt ein Rätsel. Aber das spielt in diesem Moment keine Rolle. Während der Überfahrt über den Fluss steht für wenige Minuten die Zeit still. Solche Momente sind selten geworden, so selten wie eine Fahrt mit der Fähre über einen Fluss.

Es ist inzwischen Nachmittag, wir müssen unser Programm abkürzen. Den Besuch im kleinen Heimatmuseum von Zbigniew Czarnuch in Witnica verschieben wir auf ein andermal. Nach Witnica, das ehemals deutsche Vietz, hatte es den damals 15-Jährigen nach dem Krieg verschlagen. Sein Vater hatte dort den Posten eines Bürgermeisters angenommen. Die Propaganda, dass es sich bei den ehemals deutschen Gebieten in Wirklichkeit um urslawische, also "wiedergewonnene Gebiete" handele, war damals eine Möglichkeit, sich in der Fremde zurechtzufinden. Und so war es für den jugendlichen Zbigniew selbstverständlich, im Herbst 1945 mitzumachen bei der Aktion "Zähmung der Landschaft". Er übermalte alte Inschriften, meißelte die deutschen Namen aus den Grabsteinen auf dem Friedhof. Fragen stellte Zbigniew Czarnuch keine. Dass die Neumark zwischen der Zeit der Piasten und den Neusiedlern nach dem Krieg 700 Jahre lang deutsch gewesen war, hat er erst später begriffen.

All das ist nachzulesen in einem Buch von Helga Hirsch, das uns gewissermaßen für den verpassten Besuch entschädigt. Darin erfahren wir auch, was den Ausschlag gegeben hat, dass Zbigniew Czarnuch in seinem kleinen Museum heute die deutsche Geschichte von Witnica zum Thema macht, Zeugnisse sammelt wie Grabsteine, die er früher selbst entfernt hatte. Nachdem er 1968 mit ansehen musste, wie die polnischen Juden, die die deutsche Besatzung und den Holocaust überlebt hatten, in Polen wieder verfolgt wurden, begann der Patriotismus zu bröckeln. Aus Zbigniew Czarnuch wurde ein anderer. Ein Lehrer, der seine Lehren gezogen hat. Schließlich begann er in den achtziger Jahren, einen anderen Blick auf die Deutschen zu werfen. Heimat, zitiert ihn Helga Hirsch, sei nun keine Frage der Ideologie mehr, sondern ein Ort der geistigen Verwurzelung.

Wir schauen uns um. Diese Kleinstadt im nördlichen Warthebruch als Heimat zu begreifen, fällt schwer. Viel zu viel spricht hier noch die Sprache der Ankunft, des Provisoriums, das zum Dauerzustand geworden ist. Die Häuser sind heruntergekommen, das Straßenpflaster uneben, im einzigen Restaurant im Ort rät uns der Kellner, die Räder mit in den Gastraum zu nehmen. Geistige Verwurzelung schafft noch keine Arbeitsplätze. Ein Glück, dass da wenigstens die kleine Brauerei noch in Betrieb ist.

Vielleicht ist das Warthebruch aber auch kein Ort für Städtetouristen. Kaum haben wir Witnica in Richtung des Warthedamms verlassen, stellt sich das Gefühl der Zeitlosigkeit wieder ein. Und es sollte uns bis zum Ende der Tour nicht mehr verlassen. So sehr ergreift uns die Zeitlosigkeit, dass wir auf der Fahrt die Warthe entlang nach Kostrzyn, vorbei an Auwaldresten und wilden Wiesen, an Altarmen und wartenden Anglern, gar nicht die Dämmerung bemerken, die plötzlich hereinbricht. Selbst die Kraniche kann man nun besser hören als sehen. Auch das ein Erlebnis.

Schließlich ist es doch noch geschafft: mit dem letzten Rest an Tageslicht Ankunft in Dabroszyn, dem einstigen Tamsel, das sich im Gegensatz zu Witnica herausgeputzt hat. Selbst das Schloss und die Schinkelkirche sind restauriert. Aber Dabroszyn hat auch einen Ruf zu verlieren. Schließlich galt Tamsel keinem geringeren als Theodor Fontane als "zweites Rheinsberg".

Vorerst sind wir froh, dass wir unsere Radtour nicht in Rheinsberg beenden, sondern dort, wo sie mittags um 12 Uhr begonnen hat, im fünf Kilometer von Dabroszyn gelegenen Kostrzyn. Anders als Rheinsberg nämlich ist die ehemalige Hauptstadt der Neumark mit Berlin durch eine Bahnstrecke verbunden. Die Niederbarnimer Eisenbahn fährt sogar stündlich. Also ist noch Zeit, den Abend bei einem Bier in Bahnhofsnähe ausklingen zu lassen. Nur eines können wir nicht mehr: unsere Eindrücke aus dem Warthebruch mit der Landschaft des Oderbruchs vergleichen, durch die wir gleich fahren werden. Inzwischen ist es stockdunkel geworden.

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