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DRUCKVERSION Die Emajogi-Route

Der größte Fluss in Estland führt von der heimlichen Hauptstadt Tartu bis zum Peipussee an die russische Grenze

von UWE RADA

Ein solches Spektakel hat der Hafen von Tartu lange nicht mehr gesehen. Schon am Nachmittag strömen die Menschen ans Ufer des Flusses Emajogi, um bei den letzten Handgriffen dabei zu sein. Etwas abseits üben Sängerscharen ein letztes Mal das alte Volkslied, das dem Fluss gewidmet ist, der Tartu, die altehrwürdige estnische Universitätsstadt mit dem Peipussee an der Grenze zu Russland verbindet.

Letzte Vorbereitungen auch der Offiziellen der "Estnischen Barken-Gesellschaft", die zum Spektakel am Flussufer geladen hat. An diesem Apriltag 2006 soll die "Emajoe-Peipsi-Barke" zu Wasser gelassen werden, ein detailgetreuer Nachbau jener Schiffe, die schon vor sechshundert Jahren den Emajogi hinab zum Peipussee segelten und von dort weiter nach Russland. Damals war das alte Dorpat, so der deutsche Name von Tartu, zwar noch keine Universitätsstadt. Als Mitglied der Hanse profitierte es aber von seiner Lage an den Handelswegen zwischen Reval (Tallinn) und den russischen Handelsstädten Novgorod und Pskow am Peipussee. Einer dieser Wege war die Emajogi-Route.

Das Flussufer liegt im Mittagsschlaf. Die meisten Parkbänke sind verwaist, nur vereinzelt schaukeln junge Mütter ihre Kinderwagen. Eine Studentin studiert ihr Skript. Es sind Semesterferien in Tartu, und das bleibt nicht ohne Folgen. Seit Generationen bewegt sich die Stadt im Rhythmus des Studentenlebens. Auch am Flussufer. Die Promenade brachte Dorpat schon im 19. Jahrhundert den Beinamen Embach-Athen ein. Wie Spree-Athen für Berlin, war auch dies eine Wortschöpfung, die das Staunen über das heitere, fast südländische Leben am Embach, wie der Emajogi hieß, und seinen Brücken zum Ausdruck bringen sollte. Ohne die Studenten hätte es dieses Leben nicht gegeben.

Ganz so lustig war das Studentenleben in Dorpat nicht immer. Eduard von Keyserling, der deutsch-baltische Schriftsteller und Autor des Adelsromans "Wellen", hatte 1875 ein Jurastudium in Dorpat begonnen. Weil er in irgendwelche "Ehrenhändel" verwickelt war, wurde er bereits zwei Jahre später von der Universität relegiert und von der studentischen Verbindung Curonia ausgeschlossen. Verbittert verließ es die Universitätsstadt und ging nach Wien. "Wellen", der größte Erfolg des Schriftstellers, ist wohl nicht zuletzt deshalb eine Abrechnung mit den überkommenen Konventionen des Adelsstandes geworden.

"Händel" gab es aber nicht nur unter den meist adligen Studenten, sondern auch mit der Polizei. Immer wieder mussten die Ordnungskräfte ausrücken, um die randalierende und angetrunkene Nachwuchselite zur Raison zu bringen. Die Saufgelage gehörten zu den Ritualen der studentischen Verbindungen, die an der 1632 vom schwedischen König Gustav Adolf gegründeten und 1802 unter Zar Alexander I. nach zwischenzeitlicher Schließung wieder eröffneten Universität zahlreiche Anhänger hatten. Ein Ärgernis für die Stadtväter, dem diese vor allem mit Zucht und Strenge begegneten. Zur Zucht gehörte, dass es im Hauptgebäude der Universität in der Jaani Straße nicht nur Hörsäle und Seminarräume gab, sondern auch vier Arrestzellen. Ausdruck von Strenge war die Anordnung, dass nach der Neugründung der Universität 1802 sämtliche Theateraufführungen in der Stadt verboten seien. Man wollte, so die Begründung, die Studenten nicht vom Studieren abhalten. Aufgehoben wurde das Verbot erst im Jahre 1867.

Auch heute bestimmen die Studenten den Alltag in der Stadt. Achtzehntausend Studierende leben in Tartu mit seinen hunderttausend Einwohnern, erzählt uns eine Studentin vor Tartus wohl berühmtestem Denkmal – dem Brunnen mit zwei tanzenden und sich küssenden Studenten vor dem Rathaus. Auch sie werden, wie die deutsch-baltischen Studenten im 19. Jahrhundert, zur Elite des Landes gehören. Schließlich ist Tartu die einzige Universität in Estland und damit eine intellektuelle und kulturelle Kaderschmiede. Kein Wunder, dass die Marketing-Experten der weit im Osten gelegenen Stadt einen eingängigen Slogan verpasst haben: "Tartu – Stadt der guten Gedanken".

Vom Rathaus gehen wir hinunter zum Ufer des Emajogi. Der Weg führt über den lang gestreckten Rathausplatz, an dessen Ende ein weiteres Wahrzeichen der Stadt wartet. Es ist der Pisa-Turm von Tartu, ein dreistöckiges Haus aus dem späten 18. Jahrhundert, das sich wegen des sinkenden Grundwasserspiegels des Emajogi zur Seite geneigt hatte. Während der Restaurierungsarbeiten in den sechziger Jahren haben polnische Restauratoren die Schieflage konserviert und nur den Eingangsbereich im Erdgeschoss wieder in die Gerade gebracht. Nicht nur die Studenten prägten den Alltag in Tartu, sondern auch der Fluss. Mit zweihundertsechzig Kilometern ist der Emajogi der längste Fluss in Estland.

Noch mehr Superlative hat der Peipussee zu bieten, in den der Emajogi mündet. Mit seiner Fläche von dreitausendfünfhundertfünfundfünfzig Quadratkilometern ist er nach dem Ladogasee und dem Onegasee in Russland sowie dem Vänersee in Schweden und dem finnischen Saimaasee der fünftgrößte See Europas. Weil er nur acht Meter tief ist, heizt er sich im Sommer bis zu einer Temperatur von zweiundzwanzig Grad Celsius auf. Im Winter dagegen ist der Peipussee über Monate hinweg vereist. Beinahe schon Legende ist die Schlacht am 5. April 1242, als Alexander Newski die Ordensritter auf dem Eis des Sees vernichtend geschlagen hatte. Solche Dimensionen ist man bei einem See, zumindest in Deutschland, nicht gewohnt. Der Bodensee zum Beispiel, den die Schwaben in Verkennung seiner tatsächlichen Größe gerne auch das Schwäbische Meer nennen, passt der Fläche nach acht Mal in den Peipussee.

An der Flusspromenade von Tartu stehen die Fahrgastschiffe auch diesmal Tau an Tau. Nur eines suchen wir umsonst – die "Emajoe-Peipsi-Barke", die im April 2006 mit soviel Pomp zu Wasser gelassen wurde. Am Anlegesteg werden wir aufgeklärt: "Die Barke ist unterwegs zum Peipussee. Irgendeine Touristenfahrt. Die sind ganz wild auf den historischen Krempel." Etwas enttäuscht schauen wir uns an. Schließlich hatten wir uns Hoffnungen gemacht, mit einer historischen Barke auf dem Emajogi zu schippern. Nun heißt es, Fortsetzung nach Plan B. Wir werden uns auf dem Landweg zum Peipussee begeben.

Eine Stunde später haben wir Tartu in Richtung Osten verlassen. Ab Luunja wird der Emajogi auf beiden Seiten von Straßen eingefasst. Doch in Kavastu ist Schluss mit der Emajogi-Route. Die Straße endet hier, der Fluss fließt weiter. Der Blick auf die Landkarte verrät: vor uns liegt das "Emajoe Suursoo Landschaftsschutzgebiet", das Mündungsdelta des Emajogi-Flusses in den Peipussee. Es ist das größte Delta Estlands und ein ausgedehntes Sumpfgebiet dazu. Die Informationstafel spricht von einem Paradies für Naturliebhaber, vor allem Ornithologen. Vorausgesetzt nur, sie sind mit dem Fahrrad oder einer Barke unterwegs. Mit unserem Mietwagen heißt es, einen großen Umweg fahren. Nicht in Praaga, am Mündungsort des Emajogi, werden wir den riesigen Binnensee erreichen, sondern in Kallaste, etwa dreißig Kilometer weiter nördlich.

Der Osten Estlands ist das Land der Minderheiten. Nicht nur der größte Teil der russischstämmigen Bevölkerung lebt dort – in Narva, Kohtla Järve, Sillamae – sondern auch das Volk der Setu und die Alt gläubigen. Handelt es sich bei den Setu um einen finnisch-ugrischen Stamm, der im äußersten Südosten des Landes noch etwa zwanzigtausend Angehörige zählt, gehören die Altgläubigen zu einer religiösen Minderheit, die sich im 17. Jahrhundert von der russisch-orthodoxen Kirche abgewandt hat. In ihr sahen die Altgläubigen die Herrschaft des Antichristen am Werk. Kein Wunder, dass die Abtrünnigen im zaristischen Russland verfolgt wurden. Am westlichen Ende des Reiches, in den unzugänglichen Sümpfen rund um den Peipussee haben sie Zuflucht gefunden.

Und dort leben sie heute noch, in Varnja, unweit der Mündung des Emajogi, in Kallaste, dem einzigen Abschnitt des Peipussees mit einer Steilküste, oder in Raja bei Mustvee, dem Hauptort am Peipussees auf der estnischen Seite. Es sind die von den Altgläubigen geprägten Dörfer, die eine Reise an die Ufer des Peipussess zu einer Reise in die Vergangenheit machen. Immer wieder weisen uns handgemalte Schilder vor verwitterten Holzhäusern auf den Verkauf von Zwiebeln und Gurken hin. Das ist es, wovon die Altorthodoxen seit Jahrhunderten leben. Und natürlich vom Fisch. Ihre Straßendörfer sind Fischerdörfer. Die estnische Bevölkerung dagegen lebt von der Landwirtschaft.

In einem der Fischerdörfer, in Raja, halten wir an. Am Straßenrand, idyllisch auf einer leichten Anhöhe gelegen, haben wir einen Friedhof entdeckt. I, Vordergrund die orthodoxen Kreuze, im Hintergrund das stählerne Grau des Sees. Ein Bild wie aus einem lange zugeschlagenen Buch. Fast scheint es, als hätten die Toten ihren Frieden gefunden am Ufer des Sees, obwohl die Verfolgung der Altgläubigen auch am Peipussee weitergegangen war. Aus den Abtrünnigen im Zarenreich waren in Sowjetzeiten "rückständige Fischer" geworden, die nicht selten als "estnische Spione" verfolgt wurden. Erst mit der neuen Unabhängigkeit Estlands wurde es den Altgläubigen wieder gestattet, ihre Religion auszuüben und die zerstörten Kirchen wieder aufzubauen.

Eine dieser Kirchen finden wir nicht weit vom Friedhof. Erhalten ist nur der Turm, das Kirchenschiff fehlt, es wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört. Doch der Wiederaufbau des Turmes zeigt, dass es in Raja wie in den anderen Dörfern der Altgläubigen wieder ein reges Gemeindeleben gibt – so wie einst im 19. Jahrhundert, als der russische Schriftsteller Faddey Bulgarin das Westufer des Peipussees bereist hatte. In einer Reportage schrieb er über Mustvee, auf Russisch Tschernaja, zu dem heute auch Raja gehört: "Das Dorf Tschernaja ist perfekt gebaut. Die meisten Häuser sind zweistöckig mit kleinen Türmen und Balkonen, überall sieht man Läden, Werkstätten, Fischereiutensilien. In den Straßen gibt es dichtes Gedränge. Große, gesunde junge Männer in der Mitte, rosawangene Mädchen passen auf die Kühe auf. Und überall Kinder."

Erst im Gespräch mit den Bewohnern erfährt Bulgarin, dass Tschernaja ein Dorf der Altgläubigen ist. Er ist freudig überrascht und erstaunt darüber, außerhalb von Russland Bauern zu finden, die sich ihre russische Herkunft bewahrt haben. "Sie alle sprechen auch die estnische Sprache, aber sie leben noch immer wie Russen." Das gilt bis heute. Anders als im Westen Estlands, wo Hunderttausende junger Menschen die Inseln und das Festland verlassen, um in Tallinn, England oder Irland ihr Glück zu suchen, bleiben die Altgläubigen gegenüber den Versuchungen der Moderne und den Verlockungen des Geldes standhaft. Warum das so ist, erfahren wir im kleinen Museum über das Leben der Altgläubigen. "Die Verwurzelung in dieser Region ist so groß", sagt uns der Mann an der Kasse, "dass sie die Verfolgung und die Zerstörung der Kirchen überstanden hat. Nun können auch die Jungen wieder zu ihren Wurzeln zurückkehren."

Auch wir sind in Mustvee wieder zu unsern Wurzeln zurückgekehrt, zum Ausgangspunkt unserer Emajogi-Tour. Auf einem kleinen Zettel an einem Strommast haben wir gelesen, dass es am Abend eine Filmvorführung geben soll. Kino am Rande der westlichen Lebenswelt. Das nichtkommerzielle Filmfestival "Kinobus" würde am Abend am Hafen von Mustvee einen Dokumentarfilm über die Zeit der sowjetischen Besatzung zeigen. Nicht im richtigen Kinobus, der seit ein paar Tagen unterwegs ist und den Menschen auf dem Land anspruchsvolle Filme zeigt, sondern "auf einem Kinoschiff".

Am Hafen angekommen wissen wir, dass uns unser Gespür nicht getrogen hat. Vor uns liegt dieselbe Hansebarke, die im Jahr zuvor, im April 2006, am Emajogi-Ufer in Tartu zu Wasser gelassen wurde. Nicht mit irgendwelchen Touristen hat sie sich von der "Stadt der guten Gedanken" aufgemacht zur Emajogi-Route, sondern um hier, im Hauptort am Ufer des Peipussees, einen Film zu zeigen. So schließen sich die Kreise, wie so oft in diesem Winkel Europas.

Am nächsten Morgen brechen wir früh auf, denn eines wollen wir noch sehen – die Mündung des Peipussees in den einzigen Abfluss dieses riesigen Binnenmeeres. Schon wenige Kilometer hinter Mustvee zeigt sich der Peipussee von einer ganz anderen Seite. Nun bestimmen nicht mehr die Friedhöfe, Kirchen und Holzhäuser der Altgläubigen das Straßenbild, sondern ausgedehnte Wälder, in denen sich keine Menschenseele zu verirren scheint. Anders als am Westufer – haben wir in einem Reiseführer gelesen –, biete das sandige Nordufer eine bescheidene touristische Infrastruktur. Von alldem sehen wir nichts. Doch der Anblick des blauen Seemeeres, das immer wieder durch die Kiefernstämme schimmert, ist Entschädigung genug. Wo gibt es das noch in Europa. Einen See, achtmal so groß wie das Schwäbische Meer, der nicht den Touristen gehört, sondern der Natur und den Menschen, die mit ihr leben.

Zwei Stunden später sind wir angekommen. Wir sind in Vaskvarna, dem letzten Dorf am Peipussee vor seiner Mündung in die Narva. Vor uns liegt nur noch der Fluss, dahinter Russland. Schwer zu glauben, dass dieser Weg einmal weiter führte bis Novgorod oder später dann bis Petersburg. Heute endet die Emajogi-Route, die Tartu einmal reich gemacht hat, an der Außengrenze der Europäischen Union.

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