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DRUCKVERSION Der barbarische Osten

Von wegen "Neues Berlin": Auch zehn Jahre nach der Vereinigung ist Berlin eine Grenzstadt

von UWE RADA

I. Bundeskanzler Gerhard Schröder hat ein Gespür für Bilder. Wenn er aus dem Fenster seines provisorischen Amtssitzes im Staatsratsgebäude schaue, ließ der Kanzler unlängst wissen, dann habe er den "monströsen" und "hässlichen" Palast der Republik vor Augen. Aus Sorge darum, dass ein Kanzler im Brioni-Anzug am Berliner Schlossplatz nicht en vogue sein könnte, plädierte Schröder in einem Zeit-Interview schließlich für den Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses, "und zwar einfach, weil es schön ist".

Bilder, nur eben keine schönen, waren auch Thema eines Berlin-Kongresses im Februar 1998 an der Harvard-Universität. "Wo ist der Berliner Platz in Europa?" fragte gleich zu Beginn des Kongresses einer der Veranstalter die in Cambridge/Massachussets versammelten Akteure der Berliner Hauptstadtplanung. John Czaplicka, der Fragesteller, wollte die Antwort gar nicht erst abwarten. Das nach der Wende immer wieder bemühte Bild als Ost-West-Drehscheibe treffe für Berlin nur insofern zu, als die ehemals geteilte Stadt nun zum Fluchtpunkt für osteuropäische Migranten geworden sei. "Berlin ist eine Grenzstadt und zeigt es auch", sagte Czaplicka. "Die Frage ist nur, inwieweit Berlin die Realität als Einwandererstadt akzeptiert."

Wo ist der Berliner Platz in Europa? Was haben das "Neue Berlin" des Hackeschen Marktes und Schröders Sinn für schöne Bilder mit der sachlichen Ästhetik des Palastes der Republik und seiner ehemaligen Nutzung zu tun? Akzeptiert Berlin tatsächlich, wie es John Czaplicka an der renommierten Harvard-Universität gefordert hat, seine Realität als Grenzstadt?

II. "Berlin: offene Stadt" lautete der sympathische Titel einer Ausstellung, die die Marketing-Gesellschaft "Partner für Berlin" im vergangenen Jahr über den Berliner Stadtraum verteilt hat. Der Wandel der Stadt, ihr Zusammenwachsen und ihre Erneuerung waren die Visitenkarten, mit denen das "Neue Berlin" seine Aufwartung machte.

In einem gleichzeitig erschienenen Essay-Band suchte man freilich vergeblich nach einer Erklärung für den offenen Charakter Berlins. In den einzelnen Beiträgen ist viel mehr von der "Rückkehr in die Hauptstadt" (Michael Mönninger) oder den "neuen Handelswelten" (Gerwin Zohlen) die Rede. Offen, so scheint es, sind die Berliner Blicke nur in Richtung Westen oder in die Vergangenheit. Die Zukunft der Stadt liegt aber im wilden, im barbarischen Osten.

Reisende ins entfernte Kasachstan oder ins noch weiter östlich gelegene Vietnam wissen schon heute zu berichten, dass die Kenntnis der Automärkte im Berliner Umland oder die neuesten Informationen aus der Rhinstraße in Marzahn seit geraumer Zeit zum Alltagsgebrauch derer gehört, die auf dem Sprung sind. Berlin hat also tatsächlich eine Weltbedeutung, nur eine andere, als nach dem Fall der Mauer angestrebt. Aus der "westlichsten Stadt des Ostens und der östlichsten Stadt des Westens" ist keine Metropole der Hoffnungsträger geworden, sondern der von der Hoffnung Getragenen, ein umkämpfter Raum im Spannungsfeld der sich in ihren Wohlstandsinseln einbunkernden Zivilgesellschaft und der zum Aufbruch entschlossenen "fröhlichen Barbarei" (Matthias Greffrath). Berlin ist wieder Zonenrandgebiet, nur diesmal in europäischem Maßstab, und die Grenze verläuft mitten über den Schlossplatz - zwischen dem Palast der Republik, dieser Symbol gewordenen "Hässlichkeit des Ostens" und dem Staatsratsgebäude, der - zumindest provisorischen - Machtzentrale der "schönen, neuen Mitte".

III. "Die zweite Entdeckung des Ostens beginnt, wenn das Bild, das wir von ihm hatten, erloschen ist", schreibt der Osteuropa-Experte Karl Schlögel. "Sie beginnt, wenn wir anfangen, uns Gesichter einzuprägen, die neu sind, und auf einen Ton zu achten, auf den wir bisher nicht eingestellt waren - oder den wir vergessen hatten."

Als ehemaligem Westberliner gebürt Schlögel, der heute osteuropäische Geschichte an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder lehrt, das Verdienst, schon früh auf die geografische Lage Berlins hingewiesen zu haben. Der Westberliner Senat, schrieb Schlögel bereits im Mai 1989, habe immer wieder darauf hingewiesen, dass Berlin eine Stadt in der Mitte Europas sei. "Nun, da sich herausstellt, dass Berlin wirklich auf halbem Weg zwischen Bonn und Warschau liegt, ist man überrascht."

Den Ton, die neuen Sprachen, die in den U- und S-Bahnen der Stadt zu hören sind, ignoriert man aber auch heute noch, trotz Regierungsumzugs und Ostverschiebung des politischen Zentrums. Zwar speist die Berliner Schickeria noch immer im noblen "Paris-Moskau" zwischen Regierungsviertel und Moabiter Knast, doch beim Verlassen des Restaurants am Rande der urbanen Zivilisation wünscht sie sich am liebsten wieder fort. Je näher der Osten rückt, desto größer wird die Sehnsucht nach dem Westen.

IV. Westen, das bedeutet nicht nur Schick und Glamour, Wohngemeinschaft und individuelle Selbstbestimmung. Westen bedeutet auch ein Gespür für die "feinen Unterschiede" (Pierre Bourdieu). Bei Ludovica Scarpa, einer ehemals engagierten Kämpferin gegen die städtische Armut, firmieren diese "feinen Unterschiede" mittlerweile als "Recht auf Ungleichheit", als Abwehr gegen das Projekt der Moderne, deren so genannte "Gleichmacherei" bei Scarpa geradewegs zum Faschismus führt.

Was sich in dieser Sehnsucht nach dem Westen ausdrückt, ist aber nicht nur der Wunsch, mit den Schattenseiten von Schick und Glamour, Kultur und Kommerz nicht länger konfrontiert zu werden. Es ist auch der Wunsch, die feinen Unterschiede zu vergröbern, bis hin zur städtischen Verräumlichung der Differenz, einem Berlin der "Zitadellen", das sich vom Berlin der "Ghettos" sichtbar hervorhebt. Wenn schon Segregation und Stadtflucht, Polarisierung und Amerikanisierung, dann bitte richtig, mit Videoüberwachung, Polizei und "Zero Tolerance". Wer in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist, will schließlich seinen Platz haben, bevor es anfängt, richtig ungemütlich zu werden.

Was aber, wenn es schon ungemütlich ist? Wenn es gar nicht genügend Bewohner gäbe, die Zitadellen zu verteidigen? Wenn selbst die Schnäppchenjäger den Potsdamer Platz erobern? Wenn in Charlottenburg ein Kiez nach dem andern zum "Problemquartier" abkippt, und sich der Hackesche Markt aus der Perspektive der Fischerinsel seltsam klein und wichtigtuerisch ausnimmt?

Hat die Zeit nicht längst die ersten Urteile gefällt? Nachdem schon vor Jahren der letzte Direktflug von Berlin nach New York mangels Nachfrage in der Business Class gestrichen wurde, führen die verbliebenen transkontinentalen Non-Stop-Verbindungen heute direktemang nach Pjöngjang oder Ulan-Bator. Der Berliner Ostbahnhof in Friedrichshain ist ebenso wie der im Umbau befindliche Bahnhof Lichtenberg zum Knotenpunkt des osteuropäischen Berlin geworden. Hier kommen die Züge aus Moskwa, Tomsk, Krakow oder Warszawa an. Berlin ist eben eine andere Boomtown als New York City oder Swinging London. Ein anderer Lehrstuhlinhaber an der Viadrina hat es den Berliner gerade erst wieder ins Stammbuch geschrieben: Von einer Dienstleistungsmetropole, schreibt der Geograf Stefan Krätke in seinem jüngsten Berlin-Buch, könne eigentlich keine Rede sein. Nicht die strategischen Branchen wie etwa Finanzdienstleistungen dominieren in der deutschen Hauptstadt, sondern die "Bad Jobs". Berlin ist damit eher Dienstboten- als Dienstleistungsmetropole oder, wie es Krätke schreibt, die "Hauptstadt der Putzkolonnen".

Noch immer freilich gibt es genügend Politiker, die sich der Erkenntnis verweigern, dass Berlin keine Global City im Wartestand ist, sondern eine abgeräumte Industriestadt, eine Metropole allenfalls für neue Goldgräber und Abenteurer, mehr Saloon als Salon, eine wilde Mischung aus Detroit und Lodz, eben eine Grenzstadt zum Osten.

V. Was haben der Große Stern im Tiergarten und die Raststätten auf den Landstraßen östlich der Oder gemeinsam? Hier wie dort, auf beiden Seiten der Grenze, bieten polnische Jugendliche ihre Dienste an, wischen Autoscheiben für ein paar Groschen, steigen ein in die unterste Stufe der Dienstleistungsökonomie. Weiter oben wischen die Gebäudereiniger die Scheiben in den neuen Bürotürmen, viele von ihnen auch aus Polen. Daneben stauben polnische Hausfrauen, illegal versteht sich, die Bücher derer ab, die tagsüber in den Zeitungsredaktionen oder der Politik von der Zukunft Berlins träumen.

Was bei Helmut Höge "Berliner Ökonomie" heisst, nennt Karl Schlögel den osteuropäischen "Ameisenhandel". Und Berlin, die deutsche Hauptstadt, ist eines der Zentren dieser Ökonomie des Überlebens, ebenso wie Warschau, Bukarest oder Istanbul. "Die Räume", meint Schlögel, "bilden sich entlang der Linien des Bruchs und über die alte Trennlinie hinweg." Einst fernliegende Orte seien in die nächste Nachbarschaft gerückt, und was einem vertraut gewesen sei, sei plötzlich nur noch schwer zu erreichen. Man kann es, Scarpa variierend, auch anders sagen: Die Ungleichen nehmen sich ihr Recht. Die Zeit der Gemütlichkeit ist tatsächlich vorbei.

Wenn einem Großteil der Menschen die Möglichkeit genommen wird, am Reichtum der Gesellschaft teilzuhaben, warnte schon vor geraumer Zeit der Soziologe Hartmut Häußermann, dann lebe man am Rande eines Bürgerkriegs. Dieser amerikanischen Erfahrung mit der Krise der Stadt setzt Karl Schlögel noch eine osteuropäische hinzu: "Das ganze östliche Europa hat etwas bewältigt, was dem Westen noch bevorsteht: sich auf die Risiken der Zwischenzeit einzulassen, in der ein alter Zustand unhaltbar geworden ist, ein neuer sich aber noch nicht verfestigt hat; im Provisorium leben zu können, ohne dass dies als Weltuntergang empfunden würde; nicht in Panik und Hysterie zu verfallen, wenn die Selbstverständlichkeiten einer Lebensform aufhören, selbstverständlich zu sein."

VI. Was ist selbstverständlich, was ist es nicht? Während Intellektuelle wie Karl Schlögel, trotz allen Bemühens um eine "Entdeckung des Ostens", dortselbst eher auf eine Renaissance des Westens hoffen, auf die "Wiederkehr der Städte", die "Rückkehr des Stadtbürgers", während sie in jeder Form der Akkumulation von Kapital, und sei es in den Händen der Mafia, einen Hoffnungsschimmer erblicken, sind andere ehrlicher. Für sie ist die Geografie der Grenzstadt Berlin keine Chance, sondern eine Bedrohung.

Unbewusst oder bewusst die These Samuel Huntingtons vom "Clash of Civilizations" antizipierend, haben etwa Politiker, auch rot-grüne, nach der Wende versucht, den visafreien Reiseverkehr zwischen Polen und Berlin an den Nachweis von Devisen zu knüpfen. Flucht nach vorne, respektive in den Osten ist der eine Umgang mit der Berliner Krise, der andere besteht im Ausbau neuer Grenzen, nicht nur an der Oder, sondern auch in Berlin, "Invisible Frontiers", wie es der Bremer Politologe Lothar Probst nennt. Beiden Reaktionen ist gemeinsam, die negativen Seiten der Grenzstadtlage Berlins verdrängen zu wollen.

Zumindest das steht in einer alten, einer ganz alten Tradition. Als "Barbaren" wurden bereits bei den alten Griechen jene ausgegrenzt, die, nur "barbarbar" von sich gebend, der zivilisierten Sprache des Gastlandes nicht mächtig waren. Im Berlin des 21. Jahrhunderts hat sich daran wenig geändert. Wer noch immer auf Soljanka, Currywurst oder Döner steht, kann im Zeitalter von Parmaschinken und Ciabatta nichts anderes verkörpern als einen Angriff auf die guten Sitten. So gesehen wäre Berlin freilich nichts anderes als die "Hauptstadt der Barbaren" und der Hackesche Markt nur ein kleines, gallisches Dorf der Feinkost-Partisanen.

Was ist selbstverständlich, was nicht? Während Harvard-Intellektuelle wie John Czaplicka für Berlin die Parole "Survival statt Revival" ausgeben oder Kritiker Huntingtons wie etwa Jean-Christoph Rufin im Theorem des Kampfes der Kulturen den Versuch sehen, einen neuen Limes zu errichten, haben die neuen Barbaren Berlin längst erreicht. Sie definieren sich selbst als "Barbaren" wie in einem Jugendclub in Schöneberg, nennen sich "Kanak Attak" wie in Kreuzberg oder variieren den Begriff des "Barbaren aus dem Osten" wie der russisch-jüdische Kolumnist Wladimir Kaminer.

Warum, so steht zu fragen, sollen nicht auch sie zum "Neuen Berlin" gehören? Warum soll die deutsche Hauptstadt, Grenzstadt qua definitionem, nicht auch barbarisch sein dürfen? Worin besteht der Unterschied zwischen einem Peter Dussmann und seinen Geschäften in Osteuropa und einer polnischen Putzfrau, die hier auf der Suche nach Arbeit ist? Und wäre es wirklich der Untergang der "Berliner Republik", wenn in das wiederaufgebaute Berliner Stadtschloss, für das sich der Bundeskanzler so überaus stark macht, am Ende ein schnöder Baumarkt einzieht?

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