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DRUCKVERSION In die Gänge gekommen

Der Wohnraum im prosperierenden Hamburg wird knapp. Das spüren alle. Experten fordern eine neue Mietenpolitik und mehr Sozialwohnungen

von UWE RADA

Flugblätter an Fensterscheiben, auf Häuserwänden Graffiti, das nächste Plenum gleich am Abend. Äußerlich unterscheidet das Hamburger Gängeviertel nichts von den Hausbesetzungen der vergangenen Jahrzehnte. Doch beim Gängeviertel kommt es nicht aufs Äußere an, wichtig sind die inneren Werte. Dass dieses letzte erhaltene Wohnquartier der städtischen Unterschichten aus dem frühen 19. Jahrhundert der üblichen Architektur aus Stahl und Glas weichen soll, rief nicht nur Künstler auf den Plan, sondern die ganze Stadt.

Drei Monate ist es nun her, dass 200 Künstler die heruntergekommenen Häuser am Valentinskamp und der Caffamacherreihe besetzt haben. Drei Monate, in denen Hamburg aus einem Dornröschenschlaf erwacht ist. Künstler, Musiker und Kulturschaffende wehrten sich in einem Aufruf "Not in our name Marke Hamburg" gegen die fortschreitende Stadtentwicklung im Namen einer ungebremsten Profitmaximierung. Auf Sankt Pauli bekam eine Bürgerinitiative gegen ein geplantes schickes Wohnquartier in der Bernhard-Nocht-Straße Zulauf - und "Empire Sankt Pauli", ein Dokumentarfilm über die Gentrifizierung im Armenhaus der reichsten Stadt Deutschlands, beunruhigt sogar die politisch Verantwortlichen. Was ist los in der Stadt der hanseatischen Zurückhaltung und des Understatement?

"Es hat sich in den Jahren verdammt viel aufgestaut", meint Ingrid Breckner, "das drängt jetzt alles nach außen." Breckner, Professorin für Stadt- und Regionalplanung an der neuen HafenCity Universität, sieht Hamburg an einem Punkt angekommen, an dem die Stadtentwicklungspolitik neu verhandelt wird. "Es gab die alte Kaufmannstradition, nach der sich die Politik möglichst heraushalten sollte aus Geschäften. Doch nun spüren die Hamburger bis ins betuchte Bürgertum hinein, dass ihnen die Dinge aus den Händen gleiten."

Dass Stadt mehr ist als Standort und Stadtmarketing, unterschreiben sie inzwischen bis in die CDU hinein. Für das politische Hamburg bis dato undenkbar, besuchte Kultursenatorin Karin von Welck vor kurzem die Besetzer im Gängeviertel, und die grüne Stadtentwicklungssenatorin Anja Hajduk verhandelt derzeit über eine Rückabwicklung des Kaufvertrags mit dem niederländischen Investor Hanzevast. "Inzwischen sieht jeder in Hamburg", sagt Ingrid Breckner, "dass man einen Investor nicht schalten und walten lassen kann, wie er will."

Auch nicht in Sankt Pauli. Bis 2003 erstreckte sich auf dem Gelände östlich der Davidstraße die Bavaria-Brauerei. 1.000 Leute, viele aus dem Kiez, hatten hier Arbeit. Inzwischen ist die Brauerei abgerissen. Nun steht auf dem Gelände eine "Stadt im Stadtteil" mit Büros, Luxuswohnungen und Nobelhotel. Wenn der Projektentwickler oben vom "Astra-Turm" auf Sankt Pauli herabschaut, sagt er: "Das da unten kommt mir immer mehr vor wie eine Fototapete."

Sätze wie "diese da unten" kommen nicht gut an. Erst recht nicht, seit die Mieten in Sankt Pauli höher liegen als der Hamburger Durchschnitt. Jeder Dritte lebt hier noch immer von Hartz IV. Die Angst vor Verdrängung ist an der Davidstraße keine Floskel. In der angrenzenden Hopfenstraße sind die Mieten und Preise für Eigentumswohnungen schon in die Höhe gegangen.

Schicke Wohnpaläste, lichtdurchflutete Büros, Investorenlandschaften aus Stahl und Glas gibt es überall in deutschen Städten. In schrumpfenden Großstädten wie Leipzig kann das eine Win-win-Situation sein. Die es zu Geld gebracht haben, ziehen in die neuen Traumwohnungen und machen in ihren alten Wohnungen Platz für die weniger Wohlhabenden. Rutschbahneffekt heißt das im Planerdeutsch.

In Hamburg sucht man diesen Effekt vergebens. Zwar entstehen derzeit in der HafenCity, dem größten Stadtentwicklungsprojekt Europas, 5.500 neue, meist teure Wohnungen. Doch das reicht bei weitem nicht, weiß man in der Stadtentwicklungsbehörde. In der jüngsten Bevölkerungsprognose wird Hamburg ein Wachstum von 5.000 bis 6.000 Haushalten pro Jahr vorhergesagt. Von jetzt 1,78 Millionen Einwohnern wird die Zahl der Hamburger 2020 auf 1,82 Millionen steigen. Keine andere Stadt in Deutschland wächst derzeit so schnell wie Hamburg.

Inzwischen schwant vielen Hamburgern freilich, dass der Erfolg des Leitbilds "Wachsende Stadt" auch seine Schattenseiten hat. Zwar hat die schwarz-grüne Koalition unter Bürgermeister Ole von Beust den sozialen Wohnungsbau von 650 auf 1.000 Wohnungen pro Jahr aufgestockt - doch das ist zu wenig. Es wird langsam eng in der Elbmetropole. Wie lukrativ der Immobilienstandort Hamburg für Investoren ist, zeigt die Wirtschaftskrise. Neben München ist Hamburg die einzige Stadt, in der die Immobilienpreise nach dem Crash nicht fielen, sondern weiter anstiegen.

Am Hein-Köllisch-Platz auf Sankt Pauli ist montags Widerstandstag. Im hübsch renovierten Café der Gemeinwesenarbeit treffen sich die Aktivisten der Initiative "No BNQ" und brüten über neuen Aktionen, die dem Investor des geplanten Wohnquartiers das Leben schwer machen sollen. Der hat sich vor einiger Zeit ein ganzes Karree gegenüber der Hafenstraße unter den Nagel gerissen. Wo heute Migranten, Studierende und Künstler wohnen, soll demnächst das Bernhard-Nocht-Quartier entstehen, ein schickes Stück Sankt Pauli, ganz so wie das Brauereiquartier an der Davidstraße.

Für Steffen Jörg, einen der Gründer von "No BNQ", war das Brauereiquartier der Dammbruch für die Gentrifizierung auf Sankt Pauli. "Seitdem zieht es die betuchten Hamburger nicht nur in die HafenCity, sondern auch an Hamburgs sündige Meile." Kein Wunder, treffen in Sankt Pauli doch zwei Megatrends der Stadtentwicklung aufeinander: die Renaissance der Innenstadt als Wohnort und lebendige Mischung des Quartiers in unmittelbarer Nähe zur Elbe.

Aber auch die Stadtteilaktivisten machen mobil. Vor dem Quartier Hafenpanorama, Sankt Paulis teuerstem Wohnort, trifft Jörg eine Gruppe von Kommunalpolitikern aus Tel Aviv. "Der Erfolg, den wir mit unseren Aktivitäten haben", verrät er den Israelis, "erstaunt uns selbst." Tatsächlich hat der Investor des Bernhard-Nocht-Quartiers den alteingesessenen Mietern inzwischen versprochen, die Mieten zehn Jahre lang stabil zu halten.

Proteste gegen Gentrifizierung gibt es in jeder großen Stadt. In Berlin wehren sich Stadtteilaktivisten gegen die Yuppisierung im Studentenbezirk Friedrichshain und neuerdings auch im sozialen Brennpunkt Neukölln. In Köln blickt die Südstadt auf eine lange Tradition der Stadtteilarbeit zurück. Aber nirgendwo ist der Protest so weit aus der linken Nische herausgekommen wie in Hamburg. Selbst die Hamburger Medien schreiben inzwischen über den Begriff Gentrification, der der Bundesanwaltschaft vor geraumer Zeit noch als Hinweis für die Zugehörigkeit zur linksradikalen Szene galt.

Für Amelie Deuflhard, Intendantin der Theaterfabrik Kampnagel, hat die Gentrifizierung in Hamburg längst auch die besseren Stadtteile erreicht: das Schanzenviertel, Ottensen oder Eimsbüttel, wo Studenten und junge Künstler seit den Achtzigerjahren selbst zur Aufwertung beigetragen haben - und nun selbst von ihr bedroht sind. "Das erklärt auch, warum der Protest so breit ist", sagt Deuflhard.

Tatsächlich haben das Manifest "Not in our name" auch Künstler wie Ted Gaier unterschrieben, als Gründer der Punkband Goldene Zitronen einst Teil der linken Szene, heute aber, wie die Kritiker des Aufrufs unken, angekommen im alternativen Establishment. Dass das plötzliche Engagement der Kunstszene den Protest gegen die Gentrifizierung entpolitisiert, glaubt Deuflhard aber nicht. "Das Starke an Hamburg ist gerade die Breite des Protests."

Ein Protest, der ohne weiteres auch auf andere Städte überschwappen kann, glaubt Stadtforscherin Ingrid Breckner. "Wo die Städte wachsen, steigen auch die Immobilienpreise." Wie in Hamburg könnten bald auch im ebenfalls wachsenden Köln oder München Bürger und Künstler auf die Straße gehen. Selbst in Berlin, wo viele Quartiere eher ab- als aufgewertet werden, könnte die Stimmung kippen. Falls die Hauptstadt nämlich nicht mehr arm und sexy ist, sondern ein bisschen vom Aufschwung abkriegt, so die Aussage eines Senatsgutachtens, sei eine Entwicklung wie in Paris nicht auszuschließen: Die Innenstadt den Reichen, der Unterschicht die Vorstädte.

Gibt es Alternativen? Diese Fragen stellen sich nicht nur die Besetzer des Gängeviertels oder die Bürgerinitiative No BNQ, sondern auch aufgeschreckte Senatoren im schwarz-grünen Hamburg. Was aber kann die Politik tun? "Die Frage ist doch, was sie unterlassen hat", sagt Stadtforscherin Ingrid Breckner. "Anfang der Neunzigerjahre hatte Hamburg 40 Prozent Sozialwohnungen, heute sind es nur noch 12 Prozent", meint Breckner und prophezeit: "Wenn in Deutschland nicht bald wieder Sozialwohnungen gebaut werden und eine andere Mietenpolitik betrieben wird, ist das hier erst der Anfang."
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